"Fragmente eines Ganzen": Von Kriegsinvaliden und indischen Impressionen
Die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja lebt mit ihrem Mann, dem Künstler Andrej Krassulin, im deutschen Exil. Nun haben die beiden gemeinsam ein Buch veröffentlicht, mit ihren Texten und Abbildungen von seiner Kunst.
"Ich kann kaum entziffern, was da steht", sagt Ljudmila Ulitzkaja, während sie in der Galerie Volker Diehl in Berlin eines ihrer handschriftlichen Manuskripte betrachtet. Darauf hat ihr Mann Andrej Krassulin eine grau-gefleckte abstrakte Grafik gedruckt. Nicht mehr voneinander zu trennen ist hier die Kunst des Ehepaars, das sich selbst als unzertrennlich beschreibt. Die Grafiken Krassulins auf Manuskripten seiner Frau sind auch Teil des liebevoll gestalteten gemeinsamen Buchs "Fragmente eines Ganzen". Es zeigt den wechselseitigen Einfluss von Schriftstellerin und bildendem Künstler. Von Krassulin habe sie gelernt, die Welt mit seinem Blick fürs Detail zu sehen, schreibt Ulitzkaja im Buch über ihren wortkargen Mann:
Andrej ist ein Meister der Schweigens. Sein Schweigen ist immer bedeutungsvoll. Das weiß ich zu schätzen.
"Meine Großmutter sagte: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold", erzählt der 90 Jahre alte Andrej Krassulin.
Ulitzkajas Lyrik und Krassulins ausdrucksstarke Malerei
Zu einer ganzen Gemälde-Serie inspirierte ihn letztlich eine Skizze im Notizbuch seiner Frau. Vor Jahren war das Ehepaar während eines Sonnenuntergangs am Strand im indischen Goa. Ulitzkaja beobachtete, wie ihr Mann der im Meer versinkenden Sonne entgegen durch die Wellen schritt, während zwei schwarze Vögel über den Strand liefen. Diese Impression seiner Frau hat Krassulin in ausdrucksstarke abstrahierte Malerei überführt, in der die Blautöne des Meeres dominieren.
In "Fragmente eines Ganzen" veröffentlicht die 81-jährige Ulitzkaja nun zum ersten Mal eigene Gedichte. Bisher, erläutert sie im mal berührenden, mal nachdenklich machenden, immer bereichernden Buch, habe sie die Lyrik zurückgehalten, weil sie ihr zu privat erschienen sei, eben nur für Ihren Mann bestimmt:
Was Ohnmacht ist? Unwissenden ein Wink.
Doch du und ich, die schon die Bürde tragen,
die Kehrseite des Daseins zu erahnen,
wir mühen uns ein Leben lang damit,
verzwickte Schlingen zu entwirren.
Zwar ohne Hast, doch stets im Wissen,
dass uns nur eine kurze Frist gegeben,
Bis uns der Strudel eines Abflussgullys
hinwegspült in den Friedhofsschlamm.
Leseprobe
"Das Invaliden-Thema spielt in unserem Leben eine große Rolle"
In der Berliner Galerie deutet Ulitzkaja auf eine Bronze-Skulptur Krassulins, die auch im Buch abgebildet ist. Man erkennt einen Mann ohne Beine im Rollstuhl. "Das Invaliden-Thema spielt in unserem Leben eine große Rolle", sagt sie. "Andrejs Vater war Invalide. Er hat an drei Kriegen teilgenommen und im letzten ein Bein verloren. Als kleines Mädchen bin ich oft bei uns über den Hof spaziert. Und an einem Tisch im Hof saßen immer Männer, die ausnahmslos Invaliden waren. Damals, nach dem Zweiten Weltkrieg, sah man seltener einen Mann mit zwei Armen und zwei Beinen als einen Invaliden."
"Krieg ist dumm, grauenvoll und ein Verbrechen", schreibt Ulitzkaja in einem Text über Invaliden, der die Abbildungen von Krassulins Invaliden-Skulpturen flankiert.
"Unserer liebes Land lässt uns das Thema der Invaliden nicht vergessen." Damit spielt Ljudmila Ulitzkaja natürlich auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine an. Den hat sie öffentlich als "Schande" bezeichnet und musste deshalb einen Monat nach Kriegsbeginn gemeinsam mit ihrem Mann Moskau fluchtartig verlassen und sich ins Berliner Exil begeben. Oder wie es Andrej Krassulin mit seinem schwarzen Humor formuliert: "Wir sind hier auf unserer Datscha angekommen."
Fragmente eines Ganzen
- Seitenzahl:
- 216 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
- Verlag:
- Ciconia Ciconia
- Bestellnummer:
- 978-3-945867-68-6
- Preis:
- 30 €