Der Tod als Antrieb? "Begrenztheit führt zu bewussterem Leben"
Die Begrenztheit des eigenen Lebens ist für die meisten keine angenehme Vorstellung. Doch sie birgt die Chance, ein sinnerfülltes Leben zu führen, sagt der Medizinethiker Giovanni Maio im Podcast Tee mit Warum.
Das Bewusstsein über die eigene Endlichkeit kann dazu führen, dass wir bewusster leben. Es verleiht unserem Dasein Sinn, kann aber auch zu einer Überfrachtung führen. Denn je mehr wir ganz schnell und viel erleben wollen, desto weniger erleben wir wirklich, sagt Giovanni Maio. Der Philosoph, Arzt und Professor für Medizinethik an der Universität Freiburg hat gerade das Buch "Ethik der Verletzlichkeit" herausgebracht. Einen Auszug des Gesprächs lesen Sie hier, das ganze Gespräch hören Sie im Philosophie-Podcast Tee mit Warum.
Aus philosophischer Sicht: Halten Sie das Bewusstsein darüber, dass unser Leben endlich ist, für sinnstiftend? Oder ist es besser, diese Gewissheit zu verdrängen?
Giovanni Maio: Das Bewusstsein der Begrenztheit der Zeit, die wir zur Verfügung haben, ist auf jeden Fall etwas Bewusstseinsschärfendes. Das ist auf jeden Fall etwas Positives. Gleichzeitig ist damit eine Traurigkeit verbunden. Das Bewusstsein, dass alle Dinge zu Ende gehen, hat etwas Melancholisches an sich. Es kommt darauf an, aus diesem Bewusstsein heraus die Chance zu sehen, umso bewusster und fokussierter die Dinge zu tun, die wichtig sind.
Sich dieser Melancholie zu stellen, die Begrenzung wahrzunehmen, ist etwas sehr Intimes. Es ist die größte Verletzlichkeit, die wir Menschen teilen, die aber in unserer Gesellschaften ein großes Tabu ist, oder?
Maio: In jedem Fall ist das Bewusstsein der Endlichkeit unseres Seins geradezu das Symbol für unsere Verletzlichkeit. Wären wir nicht endlich, könnten wir alles ein anderes Mal tun und wieder tun. Diese Endlichkeit verweist auf die Fragilität all dessen, was wir erleben, weil es mit der Unwiederbringlichkeit zu tun hat.
Die Chance besteht darin, dass wir allein aus dem Bewusstsein der Begrenztheit angehalten werden, das Gefäß zu fühlen. Wäre es ein endloses Gefäß im Sinne einer fehlenden Begrenzung, hätten wir gar nicht den Impetus es zu füllen, sondern würden dahinplätschern. Das heißt also, die Begrenztheit der Zeit ist eine Chance. Weil das Bewusstsein darüber etwas Sinnstiftendes haben kann. Die Dinge erhalten Sinn dadurch, dass wir sie nur jetzt tun können und nicht in hundert Jahren.
Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Eines haben wir alle gemeinsam: Wir werden vermutlich alle sterben. Was stirbt dann von uns? Gibt es eine Seele?
Maio: Da sprechen Sie philosophische Grundfragen an, die lange Zeit vorherrschend waren. Die Frage, ob wir nicht doch nach dem Sterben des Körpers immer noch ein Überleben an der Seele hätten, hat die Debatten über Jahrhunderte geprägt. Heute haben wir eine Tendenz zur Biologisierung des Todes im Sinne eines Bewusstseins einer radikalen Endlichkeit, das mit dem Ende des körperlichen Lebens das gesamte Leben zu Ende geht.
Diese Wahrnehmung des Sterbens führt dazu, dass man auf das Leben selbst schaut und bestrebt ist, innerhalb dieses Lebens zu maximieren, weil man nicht davon ausgeht, dass nach dem biologischen Tod etwas weitergeht. Das hat Auswirkungen auf unseren Blick auf das gesamte Leben, wenn wir nicht mehr davon ausgehen, dass etwas weiterlebt. Diese Tendenz haben wir in unserer Zeit.
Ist die Säkularisierung, der Verlust des Glaubens in unserer Gesellschaft problematisch für unseren Blick auf das Leben sowie auf den Tod?
Maio: Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir im Grunde die Fortexistenz, eine Seele tendenziell infrage stellen. Insofern sehen wir im biologischen Tod das Ende von allem. Das führt dazu, dass wir umso mehr das gesamte Leben hindurch bestrebt sind, alles in dieses Leben hineinzupacken und so viel wie möglich zu erleben. Daher die Beschleunigungstendenzen unserer Zeit.
Das ist nur erklärbar aus dem Verbannen eines jenseitigen Denkens. Die Konzentrierung auf das Diesseits führt zu dieser Tendenz der Beschleunigung und dadurch aber nicht etwa zur Maximierung von positiven Gefühlen, sondern eher zu Sinnentleerung. Denn je mehr wir ganz schnell und viel erleben wollen, desto weniger erleben wir wirklich. Das ist das Problem.
Wie finden wir konkret einen guten Umgang mit unserer eigenen Endlichkeit?
Maio: Indem wir das Bewusstsein der Endlichkeit als Riesenchance sehen müssen. Je mehr wir uns darüber im Klaren sind, desto früher starten wir damit, das Wesentliche in den Blick zu nehmen und uns auf das zu konzentrieren, was Bedeutung hat, was Sinn stiften kann. Insofern führt die Vergegenwärtigung der Endlichkeit zu einem bewussteren Leben. Das ist das, was ich bei allen Patienten erlebe. Wenn wir Patienten verdeutlichen, dass eine Krankheit den Zeithorizont des Lebens eingeengt hat, führt das automatisch dazu, dass die Zeit, die dann bleibt, umso bewusster gestaltet wird. Und man muss nicht krank werden, um diese Erkenntnis zu generieren.
Die Fragen stellte Denise M'Baye. Das ganze Gespräch hören Sie im Philosophie-Podcast Tee mit Warum.