Vom Antlitz zum Cyberface - Das Gesicht im digitalen Zeitalter
Über den Blick ins Gesicht versuchen wir festzustellen, mit wem wir es zu tun haben, erklärt die Literaturkritikerin Andrea Köhler. Im Interview mit NDR Kultur spricht sie über das Stigma des alternden Gesichts und die Gefahren für unsere Demokratie und Empathiefähigkeit, wenn Gesichter verzerrt oder anonymisiert werden.
Für den Philosophen und Physiker Georg Christoph Lichtenberg war das Gesicht "die unterhaltsamste Fläche der Welt". Ähnlich sieht es die Literaturkritikerin Andrea Köhler und hat deshalb im zu Klampen Verlag den kulturhistorischen Essay "Vom Antlitz zum Cyberface - Das Gesicht im Zeitalter seiner technischen Manipulierbarkeit" veröffentlicht. "Wenn wir jemandem ins Gesicht schauen, findet automatisch ein Feuerwerk an neuronalen Prozessen statt", erklärt sie. Wir ordnen ein, analysieren, kategorisieren. Doch das Gesicht lässt sich verändern, schmücken, verschleiern und wird mit digitalen und chirurgischen Möglichkeiten immer wandel- und manipulierbarer. Im Interview mit NDR Kultur spricht die Literaturkritikerin Andrea Köhler über das Stigma des alternden Gesichts und die Gefahren für unsere Demokratie und Empathiefähigkeit, wenn Gesichter verzerrt oder anonymisiert werden. Einen Auszug des Gespräch lesen Sie hier. Das komplette Interview hören Sie oben auf dieser Seite - und in der ARD Audiothek.
Frau Köhler, leider sind wir per Telefon miteinander verbunden und sehen uns nicht. Das ist für so ein Gespräch eigentlich fatal, weil wir über das Gesicht sprechen.
Andrea Köhler: Ich glaube, wir alle sind angewiesen auf den unmittelbaren Gesichtskontakt, auf das Gegenüber und auf die Reaktion des Gegenübers. Diese Vergewisserungsprozesse, die stattfinden, wenn man einander anschaut, und die uns auch irgendwie in der Welt verorten, die sind natürlich in dem Moment weg, wo man nur spricht. Das gibt dann so ein gewisses Verlorenheitsgefühl mitunter.
Was suchen wir denn im Gesicht des Anderen?
Köhler: Attraktivität ist natürlich ein Punkt, wobei die Harmonie oft gar nicht das ist, was ein Gesicht besonders schön macht, sondern meistens eine kleine Unregelmäßigkeit. Wenn man an die berühmten Schönheitsflecken denkt oder an einen leichter Silberblick - das kann ungeheuer attraktiv und interessant sein. Diese rein hübschen Gesichter, die heutzutage vorrangig sind, sind oft eher uninteressant.
Was wir aber eigentlich im Gesicht suchen: Wir wollen wissen, mit wem wir es zu tun haben. Wenn wir jemandem ins Gesicht schauen, dann fängt automatisch ein Feuerwerk an neuronalen Prozessen statt. Es ist zum einen Informationen - alt, jung, Mann, Frau, also das rein Faktische -, aber gleichzeitig suchen wir automatisch nach dem Ansteckungsfaktor der Sympathie. Ist er oder sie mir freundlich gesonnen oder nicht?
Bei meinen Recherchen fand ich es besonders interessant - und das hat mir sehr eingeleuchtet -, dass vieles auf unbewusste Prozesse zurückgeht. Man merkt an sich selber auch, dass man sehr spontan auf Menschengesichter reagiert: Der ist mir unsympathisch; die gefällt mir total gut; oder man sagt: Die Chemie stimmt. Das sind viele Dinge, die im Laufe des Lebens, vermutlich aber schon sehr früh, mit den ersten Bezugspersonen einübt, wie man auf Gesichter reagiert. Diese ungeheuren neuronalen Prozesse, das ist eigentlich das, was uns mehr oder weniger am Gesicht kleben lässt.
Ein Zitat aus dem Essay, den Sie geschrieben haben, lautet: "Die Gesichtslosigkeit im digitalen Raum beraubt uns auch der neurologischen Grundlage für die Einfühlung in eine andere Person." Besteht da auch eine Gefahr der Empathie-Unfähigkeit, die damit einhergeht, wenn wir uns viel stärker in digitalen Räumen bewegen, vielleicht auch mit Gesichtern kommunizieren, die gar nicht echt sind?
Köhler: Das ist ganz entschieden eine große Gefahr. Viele wundern sich über die unglaubliche Zunahme an Brutalität. Es gibt auch da Experimente, wo Menschen, die von solchen Trolls mit Morddrohungen und Shitstorms verfolgt wurden, mit ihnen in Kontakt getreten sind, und dass sich das in dem Moment verändert hat. Weil in dem Moment, wo wir jemandem ins Gesicht sehen, entstehen diese neuronalen Prozesse, von denen ich vorhin sprach. Diese Mimikry ist das, was Empathie, Sympathie, aber auch Einfühlungsvermögen in die andere Person überhaupt erst ermöglicht. Diese Spiegelneuronen sind das, was uns letztendlich zu humanen Wesen macht. Die Möglichkeit, sich einzufühlen - das ist die Fantasie, die da in Gang kommt, sich vorstellen zu können, was da möglicherweise in dem Anderen gerade passiert.
Das Gespräch führte Andrea Schwyzer. Das komplette Interview hören Sie oben auf dieser Seite - und in der ARD Audiothek.