Legende von nebenan: Eva Semp, Pflegeschwester aus Rostock
Wem würden Sie gerne ein Denkmal setzen? Diese Frage hat NDR Kultur am Anfang der Aktion Legenden von nebenan gestellt. Eine der Vorgeschlagenen ist die Pflegeschwester Eva Semp, die in den 50er-Jahren Maßstäbe für den Umgang mit Menschen mit Behinderungen gesetzt hat.
Eva Semp war 24, als sie begann, sich im Rostocker Michaelshof um Kinder mit sogenannter "geistiger Behinderung" zu kümmern. Das war Anfang der 1950er-Jahre. Was die angehende Pflegeschwester in ihr Tagebuch schrieb, ist eine Entdeckung.
"Muss man diese Kinder bedauern? Ich möchte meine Antwort gleich einmal vorwegnehmen: Nicht bedauern, sondern liebhaben!" aus Eva Semps Tagebuch
Im Archiv des Michaelshof wird das Tagebuch von Eva Semp aufbewahrt. Bislang ist es unveröffentlicht. Aber Pastor Ekkehard Maase, der jetzige Leiter der Einrichtung, weiß, welchen Schatz er hier hat. "Hier reflektiert eine Frau über die Rolle von Kindern mit geistiger Behinderung, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, kurz nach dem Euthanasieprogramm", erklärt Maase. "Und sie schreibt von Liebe. Das ist etwas, was uns bis heute prägt, aber für die damalige Zeit sicher revolutionär war."
In feiner Sütterlinschrift notiert Eva Semp in ihr Tagebuch:
"Die Meinung vom 'lebensunwerten Leben' wollen wir gleich einmal krass abtun. Was wissen wir armseligen Menschen überhaupt von dem Wert und Unwert eines Lebens?" aus Eva Semps Tagebuch
Filmemacher entdeckte Eva Semps Tagebuch
Auf das Tagebuch stieß Hans-Joachim Ulbrich bei der Arbeit an einem Film. Er entzifferte die Sütterlinschrift und entdeckte moderne Ansichten über Menschen mit Behinderungen. Deshalb hat er Eva Semp als Legende von nebenan vorgeschlagen.
"Sie sagt immer wieder: Man muss diese Kinder annehmen, man muss Geduld haben, man muss ihnen mit Liebe begegnen, genau dann, wenn sie am unausstehlichsten sind", so der Filmemacher. "Sie hatte zum Beispiel einen Jungen, der zwei Jahre lang nicht gesprochen hat. Wie sie es geschafft hat, dass er plötzlich redete, ist ein tolles Vorbild für heute."
"Kommen Sie einmal mit in ein Heim für solche Kinder. (…) Ich will Sie in den Reichtum und das Glück eines Lebens hineinschauen lassen, dass Sie für unwert halten." aus Eva Semps Tagebuch
Eva Semp kam 1951 als Erziehungspraktikantin aus Berlin und zog auf das Gelände des Michaelshofs in Rostock. Fünf Jahre hielt Semp ihr Leben und die Arbeit dort detailreich fest und sammelte Fotos.
Liebevoller Umgang und Ernstnehmen von Bedürfnissen
Die Einrichtung für Kinder und Jugendliche mit kognitiven Einschränkungen gibt es bis heute. Etwa 600 Kinder und Erwachsene werden hier betreut, in allen Altersstufen. Eva Semps Tagebuch ist für den heutigen Leiter der Einrichtung ein wahrer Schatz. "Es zeigt einen liebevollen Umgang miteinander und ein Ernstnehmen der Bedürfnisse des Anderen", so Pastor Maase. "Aber es ist eben nicht zeitkonform gewesen - und ich vermute, es wird nie zeitkonform werden, weil wir gerne auf andere Menschen herabblicken."
Dabei sparte Semp auch die schwierigen Momente mit den Kindern nicht aus.
"Während ich das hier schreibe, ist mir Winfried noch einmal gegenwärtig: Ständig hungrig, immer etwas Essbares findend: Kerzen, Klebstoff, Schuhcreme, Kalk aus den Wänden und in der ersten Zeit auch die eigenen Exkremente. Ein kleiner Tunichtgut." aus Eva Semps Tagebuch
"Alle gehören zu uns - das haben die Schwestern verstanden"
Und trotzdem, schreibt sie, war der Junge einer ihrer Lieblinge. In ihrem Buch findet sich auch das Foto eines Hochzeitszugs zur Kapelle auf dem Michaelshof. Es war die Trauung von Ursula Timm, Tochter des damaligen Heimleiters. Ursula Timm ist heute 90 Jahre alt und erinnert sich gut an Eva Semp und die anderen Schwestern. "Sie haben ihre ganze Zeit den Menschen hier gegeben", sagt Timm. "Sie brauchen Liebe und Verständnis. Sie gehören zu uns, zu unserer Gesellschaft. Alle gehören zu uns, das haben die Schwestern verstanden."
Nur sieben Jahre zuvor, in Nazideutschland, galten diese Kinder noch als "lebensunwert" oder als "Defektmenschen." Zwischen 1938 und 1945 ermordeten die Nazis systematisch Menschen mit Behinderungen. Allein in Mecklenburg und Pommern wurden Zehntausende getötet, darunter viele Kinder.
Nazis gaben vor, aus Mitleid zu morden
Kathleen Haack erforscht die NS-Verbrechen an Kindern mit Behinderungen. Perfiderweise gaben die Nazis vor, aus Mitleid zu morden. "Der Verweis auf das Mitleid war im Nationalsozialismus ein wichtiges Argument, um diese Menschen von ihrem Leid erlösen zu können - von dem sie eigentlich gar nicht erlöst werden wollten", so die Medizinhistorikerin. "Eva Semp schreibt: Diese Menschen leiden nicht. Im Gegenteil, sie sind durchaus fröhliche Menschen und wenn man sie kennenlernt, macht das Zusammenleben mit ihnen auch Spaß."
Semp ist nicht in Rostock geblieben. Bis zu ihrer Pensionierung arbeitete sie in einer Privatklinik für psychosomatische Krankheiten im bayerischen Oberstdorf als leitende Krankenschwester.
"Sie hat niemals groß Aufhebens gemacht"
Joachim Fabini, ein Verwandter, schickte dem Rechercheteam von NDR Kultur Fotos, die Eva Semp zum Beispiel beim Wandern mit ihrer Familie in den Bergen zeigt. Auf ihrem letzten Foto ist Semp 90 Jahre alt. Sie starb 2018 in Oberstdorf. "Sie hat niemals groß Aufhebens gemacht um die Sachen, die sie geleistet hat", erzählt Fabini. "Und sie hat sehr viel geleistet. Sie war in der Pflege im Altenheim auch nach ihrer Rente sehr aktiv. Sie wollte immer im Hintergrund bleiben - und helfen."
Ein Leben für Mitmenschlichkeit: Eva Semp hat in den 1950er-Jahren Maßstäbe gesetzt, die noch heute gelten.
Im kommenden Jahr wird NDR Kultur in Rostock ein virtuelles Denkmal einrichten - eine Tafel mit QR-Code, mit dem man einen Film über Eva Semp abrufen kann.