VIDEO: Die Sturmflut 1962 in Hamburg-Neuenfelde und Francop (2012) (4 Min)

Die große Flut: "Ich träume, dass ich versinke"

Stand: 09.02.2022 05:00 Uhr

Kaum ein anderes Ereignis der 60er-Jahre prägt die Erinnerungen der Norddeutschen wie die große Sturmflut vor 60 Jahren. Monika Genz hat die Flutkatastrophe als junge Frau in Hamburg-Neuenfelde erlebt - die Erinnerungen lasten noch immer auf ihr.

von Ulrike Bosse, NDR Info

Hamburg war von der Naturkatastrophe im Februar 1962 besonders betroffen. Die Hansestadt erlebte die schlimmste Sturmflut ihrer Geschichte: 315 Bürger der Stadt starben, Zigtausende wurden obdachlos. Beim Katastrophen-Management profilierte sich der damalige Innensenator Helmut Schmidt. Sein unkonventionelles Handeln war für den SPD-Politiker ein wichtiger Schritt auf seinem politischen Weg zum Bundeskanzler.

Sturmtief "Vincinette" wird zum Orkan

Monika Genz © NDR Foto: Katharina Kaufmann
In ihren Träumen wird Monika Genz noch immer von der Sturmflut 1962 verfolgt.

"Ich träume ganz viel vom Wasser, dass ich versinke. Auch das Wegschwemmen vom Deich habe ich ganz oft in irgendwelchen Träumen", erzählt Monika Genz im NDR Info Podcast "Deine Geschichte - unsere Geschichte". Die Erinnerung hat sich ihr tief in die Seele gegraben. Sie hat die Sturmflut als junge Frau in Hamburg-Neuenfelde erlebt, einem der besonders betroffenen Stadtteilen südlich der Elbe.

Die Nacht vom 16. auf den 17. Februar ist nicht die erste, in der starker Wind schwarze Wolken über Norddeutschland treibt. Regen, Schneeregen, Graupel und starke Winde - beim Hamburger Sturmflut-Warndienst herrscht schon die ganze Woche Alarm mit durchgehenden Tag- und Nachtdiensten. Am Freitag erreicht das Tief "Vincinette" Südskandinavien und lenkt kalte Luft nach Süden. Der Nordwest-Sturm über der Nordsee steigert sich zum Orkan.

Deichbruch in der Hasselwerderstraße in Hamburg-Neuenfelde nach der Sturmflut 1962. © NDR/Monika Genz
AUDIO: Die 60er: Die Sturmflut 1962 (1/14) (43 Min)

Viele nehmen Warnungen nicht ernst

Porträt-Aufnahme von Monika Genz aus den 60er-Jahren. © privat
Während sich die Wetterlage draußen zuspitzt, sitzt die junge Monika Genz mit ihrem Freund nichtsahnend im Kino.

Das Haus der Familie Genz steht nach am Deich in Neuenfelde. An Wind und Sturmfluten ist man gewöhnt. Monika Genz freut sich am Freitagabend auf den gemeinsamen Kino-Besuch mit ihrem neuen Freund - ihrem späteren Ehemann. Während sich die beiden ein Drama aus den Schweizer Alpen ansehen, spitzt sich draußen die Lage zu: Aufgrund des Sturms türmen sich die Wassermassen in der Deutschen Bucht immer höher. Und der Nordwestwind drückt das Wasser in die Elbmündung. Das Deutsche Hydrographische Institut warnt vor Rekord-Pegelständen.

Die Sturmwarnungen im Radio werden im Laufe des Abends der bedrohlichen Lage angepasst. Doch die Hamburger nehmen sie nicht ernst, weil dort von einer Sturmflut an der "Nordseeküste" die Rede ist, das Elbgebiet und ihre Stadt aber nicht extra erwähnt werden. Auch den Eltern von Monika Genz geht es so. "Das war unser aller Fehler, dass wir das nicht ernst genug genommen haben", sagt Monika Genz rückblickend.

Böse Überraschung beim Verlassen des Kinos

Als Monika Genz und ihr Freund um halb zwölf aus dem Kino kommen, zeichnet sich die Katastrophe ab: Das Elbwasser steht schon fast an der Deichkrone. Und keiner weiß, wie hoch es noch steigt und mit welcher Wucht es kommt. Die beiden eilen zu ihren Familien. "Dann kam mein Bruder an. Der war den ganzen Abend schon unterwegs und hat gesagt, wir müssen hier sofort raus."

Flucht zur Mühle: "Die Menschen haben geschrien"

Die Mühle in Hamburg-Neuenfelde nach der Sturmflut im Februar 1962. © privat
Monika Genz flüchtet in der Sturmflut-Nacht zur höher gelegene Neuenfelder Mühle.

Eine systematische Evakuierung gefährdeter Gebiete durch die Hamburger Behörden gibt es nicht. Die Menschen sind darauf angewiesen, von Verwandten, Freunden und Nachbarn gewarnt zu werden. Familie Genz flüchtet sich zur Neuenfelder Mühle, die erhöht und fest verankert auf dem Deich steht. "Wir sind dann hochgekrabbelt am Deich. Und das Wasser hat uns wieder runtergeschwemmt", erinnert sich Monika Genze. "Die Menschen haben geschrien und geweint, einige haben sich die Glieder gebrochen."

Die Leitstelle der Hamburger Polizei bekommt erst einmal nichts davon mit, dass in vielen Stadtteilen das Wasser über die Deiche läuft. Und auch im Laufe der Nacht gelingt es ihr kaum, sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen, weil die Telefonleitungen und Verkehrsverbindungen zusammenbrechen.

Deichbruch in Neuenfelde: Angst um den Freund

Deichbruch in Hamburg-Neuenfelde nach der Sturmflut im Februar 1962. © privat
An 60 Stellen in Hamburg brechen in der Sturmflut-Nacht die Deiche, auch in Neuenfelde.

Die Menschen in der Neuenfelder Mühle hören den tosenden Sturm und bangen, ob er womöglich die Fenster eindrückt. Ein junger Mann hat ein Transistorradio dabei - da hören sie, dass der Deich in Neuenfelde mehrfach gebrochen ist. Monika Genz bekommt Angst um ihren Freund, der in der Nähe des Deichbruchs wohnt, und will zu ihm. "Ich habe geschrien und geweint. Außer Rand und Band war ich. Und mein Bruder hat mich dann wieder reingeholt, ich war schon draußen."

Vom Dach in den Kog geschwemmt

Um 3.07 Uhr erreicht das Wasser seinen höchsten Stand: 5,70 Meter über Normal Null am Pegel St. Pauli. Rund 100.000 Menschen sind vom Wasser eingeschlossen. Sie versuchen, in den oberen Etagen der Häuser, auf Dächern und Bäumen auszuharren, bis Rettungskräfte kommen. Doch vor allem die Bewohner von Baracken- und Schrebergarten-Siedlungen sind Wasser und Sturm schutzlos ausgesetzt. So wie die Eltern der Bekannten, bei der Familie Genz nach der Sturmnacht zunächst unterkommt - sie überleben die Katastrophe nicht: "Die Nachbarn haben sie noch auf den Dach gesehen, wie sie um Hilfe gerufen hatten, und dann sind sie in den Kog reingeschwemmt worden."

Innensenator Helmut Schmidt wird zum "Macher"

Zerstörtes Haus in Hamburg-Neuenfelde nach der Sturmflut im Februar 1962. © privat
Vor allem Behelfsheime in Kleingarten-Kolonien, in denen nach dem Zweiten Weltkrieg Ausgebombte untergebracht waren, sind nach der Sturmflut zerstört.

Dass es nicht noch mehr Todesopfer gibt, ist auch dem Einsatz von rund 40.000 Soldaten der Bundeswehr und von NATO-Alliierten zu verdanken, die sich mit Pionieren, Sturmbooten und Hubschraubern an der Rettungsaktion beteiligen. Innensenator Schmidt hatte sie angefordert - und sich dabei auch bewusst über das damals geltende Verbot hinweggesetzt, die Bundeswehr im Inneren einzusetzen. Durch sein Katastrophen-Management macht sich Schmidt über Hamburg hinaus einen Namen als fähiger Politiker und "Macher".

Der Schock wirkt nach

Familie Genz überlebt die Sturmflut, und auch ihren Freund kann Monika Genz wieder in die Arme schließen. Aber der Schock wirkt nach. Zwar liebe sie das Wasser noch immer, erzählt sie. Sie sei gerne an der See und an der Elbe. "Nur wenn es so kritisch wird, dann bekomme ich Panik", sagt sie. "Dann muss ich sehen, dass ich wegkomme."

Auch deshalb leben sie und ihr Mann jetzt rund 20 Kilometer südlich der Elbe und haben sich dafür entschieden, in einem Haus zu leben, das auf dem "Hexenberg" und damit auf einer Anhöhe steht.

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Blick auf ein Rettungsfahrzeug und Schlauchboote in der überfluteten Veringstraße in Hamburg-Wilhelmsburg nach der Sturmflut 1962. © NDR Foto: Karl-Heinz Pump

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