Beamte sichern Spuren in dem teils zerstörten Gebäude des Springer-Verlages in Hamburg nach dem RAF-Anschlag am 19.05.1972. © picture-alliance/dpa

RAF-Anschlag auf das Springer-Hochhaus in Hamburg 1972

Stand: 19.05.2022 05:00 Uhr

Am 19. Mai 1972 verübt die Rote Armee Fraktion einen Sprengstoffanschlag auf das Springer-Hochhaus in Hamburg, mindestens 17 Menschen werden verletzt. Der Verlag gilt als Intimfeind der linksextremistischen Terrorgruppe um Baader, Meinhof und Ensslin.

19. Mai 1972, 15.41 Uhr: Im dritten Stock des Axel-Springer-Hochhauses an der Hamburger Kaiser-Wilhelm-Straße explodiert eine Rohrbombe. Wenige Minuten später gehen zwei weitere Sprengsätze hoch, die in den Damentoiletten im sechsten Stock versteckt waren. Mindestens 17 Menschen werden verletzt, zwei von ihnen schwer. Drei weitere Bomben können später entschärft werden. Wenige Tage später bekennt sich die Rote Armee Fraktion (RAF) zu dem Anschlag. In dem von Ulrike Meinhof verfassten Brief heißt es: "Enteignet Springer! Enteignet die Feinde des Volkes!".

Gebäude trotz Warnungen nicht geräumt

Ein Mann, der bei dem RAF-Anschlag auf das Springer-Hochhaus in Hamburg am 19.05.1972 verletzt wurde, wird in einen Krankenwagen geschoben. © picture-alliance/dpa
Mindestens 17 Verlagsmitarbeiter werden bei dem Anschlag 1972 verletzt - "zu viele Unschuldige", wie die RAF später einräumt.

Ob die RAF bei dem Anschlag in Hamburg Menschen verletzen wollte, ist unklar. Kurz vor der Detonation gehen beim Verlag zwei Warnanrufe ein. Doch das Gebäude wird nicht rechtzeitig geräumt. In ihrem Bekennerschreiben machen die RAF-Terroristen die Verlagsleitung für den blutigen Ausgang des Anschlags verantwortlich: "Springer ging lieber das Risiko ein, dass seine Arbeiter und Angestellten durch Bomben verletzt werden, als das Risiko, ein paar Stunden Arbeitszeit, also Profit, durch Fehlalarm zu verlieren. Für die Kapitalisten ist der Profit alles, sind die Menschen, die ihn schaffen, ein Dreck. Wir bedauern, dass Arbeiter und Angestellte verletzt worden sind." Später, im Prozess von Stammheim, räumten die RAF-Mitglieder ein, bei dem Anschlag auf das Verlagshaus seien "zu viele Unschuldige" verletzt worden.

Springer-Verlag widerspricht

Polizeiwagen stehen nach dem Anschlag der RAF am 19.05.1972 vor dem Springer-Verlagshaus in Hamburg. © picture-alliance/dpa Foto: Werner Baum
Dass das Gebäude aus Profitgründen nicht geräumt worden sei, weist der Springer-Verlag nach dem Anschlag entschieden zurück.

Der Springer-Verlag weist die Vorwürfe aus dem Bekennerschreiben mit den Worten zurück: "Alle hier aufgestellten Behauptungen sind blanke Lüge und nackter Zynismus (...) Dass in so kurzer Zeit über 3.000 Arbeiter und Angestellte nicht evakuiert werden konnten, muss jedem einleuchten." Im Rückblick schildert die zum Springer-Konzern gehörende "Welt", dass um 15.36 Uhr ein Anruf eingegangen sei: "Drohanrufe sind für die Telefonistinnen keine Seltenheit, sie geraten deshalb auch nicht in Hektik oder gar in Panik. Sie informieren um 15.39 Uhr den Sicherheitsbeauftragten der Innenverwaltung, Uwe Schwerzel, und der löst noch Bombenalarm aus, doch um 15.41 Uhr wird das Verlagsgebäude von einer schweren Explosion erschüttert." Die Behauptung der RAF, die Räumung sei verschleppt worden, habe nur dazu gedient, die Empörung in der Sympathisanten-Szene zu dämpfen.

"Enteignet Springer!": Die "Bild" und die Studentenbewegung

Die Feindschaft von RAF und Springer-Verlag hat eine lange Vorgeschichte, deren Anfänge in der westdeutschen Studentenbewegung liegen, in der auch die späteren Mitglieder der ersten RAF-Generation aktiv sind. Vor allem die "Bild"-Zeitung steht in den Augen der linken Protestbewegung für das alte, reaktionäre Deutschland und damit den politischen Gegenpol. Das Boulevard-Blatt wiederum schürt immer wieder die Stimmung gegen die Bewegung. Schon im Februar 1966, als Berliner Studenten friedlich vor dem Amerika-Haus in Berlin gegen den Vietnamkrieg demonstrieren, werden sie in der "Bild"-Zeitung als "politische Wirrköpfe" bezeichnet. Immer heftiger werden die verbalen Kampagnen der Zeitung gegen die Studentenbewegung.

Gisela Diewald-Kerkmann ist Professorin für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Universität in Bielefeld und hat für ihre Habilitationsschrift unter anderem auch Zeitungsberichte aus dieser Zeit ausgewertet. "Es ist erschreckend, was da für Auszüge und Titulierungen zur Studentenbewegung sind. Da wurden die Studierenden als gemeingefährlich, langbehaarte Affen, Schlägerkolonnen oder als arbeitsscheu und parasitär bezeichnet."

VIDEO: Die "Bild"-Zeitung und die Studenten (1 Min)

Im Mai 1967 fordern Studierende in der neu gegründeten Zeitung "Extra-Blatt" erstmals offen die Zerschlagung des Springer-Konzerns. Denn die öffentliche Meinung ist in den 60er-Jahren enorm von der Berichterstattung der Springer-Publikationen geprägt. "In den Medienwissenschaften gibt es zahlreiche Studien, die belegen, welch enormen Einfluss die Springer-Presse auf die öffentliche Meinungsbildung zu dieser Zeit hatte", sagt Professorin Diewald-Kerkmann. Vor allem in West-Berlin beherrscht der Springer-Verlag mit der Berlin-Ausgabe der "Bild"-Zeitung und der Berliner Tageszeitung "B.Z." damals den Zeitungsmarkt.

"Kommando 2. Juni": RAF bezieht sich auf Ohnesorgs Tod

In ihrem Bekennerschreiben zum Anschlag auf das Springer-Hochhaus versucht die RAF, ihr gewaltsames Vorgehen gegenüber ihren Sympathisanten zu legitimieren. Dabei bezieht sie sich auch konkret auf ein einschneidendes Ereignis der westdeutschen Studentenbewegung - unterzeichnet ist das Schreiben mit "Kommando 2. Juni".

Am 2. Juni 1967 besucht der persische Schah Reza Pahlavi mit seiner Gattin West-Berlin. Während die Boulevard-Presse das glanzvolle Paar und vor allem die modebewusste Kaiserin Farah feiert, protestiert die Studentenbewegung gegen den Monarchen, der in seiner Heimat Oppositionelle einsperren und foltern lässt. Vor dem Schöneberger Rathaus greifen Schah-Anhänger die Demonstranten mit Holzknüppeln an. Später stellt sich heraus, dass die Schah-Anhänger zu großen Teilen aus Agenten des iranischen Geheimdienstes Savak bestanden. Die Polizei lässt das Treiben zunächst geschehen und geht erst nach einigen Minuten dazwischen.

Am selben Abend wird vor der Deutschen Oper erneut lautstark protestiert. Bei der Ankunft des Schahs fliegen vereinzelt Steine, jedoch ohne dass der Schah wirklich in Gefahr gerät. Während der Opern-Aufführung räumt die Polizei den Vorplatz. Nachdem ein Platzverweis ohne Wirkung bleibt, gehen die Beamten mit Wasserwerfern und Gummiknüppeln vor. Es kommt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Unweit des Opernplatzes wird im Anschluss an die Räumung der unbewaffnete Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen.

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"Bild"-Darstellung der Ereignisse des 2. Juni 1967

Die "Bild"-Zeitung macht am folgenden Tag die Demonstranten für die Eskalation verantwortlich und bezeichnet sie als "wilde Randalierer". In einem Kommentar mit dem Titel "Demonstrieren ja, randalieren nein!" werden die Demonstranten als "rote SA" bezeichnet, die Anstifter der Tumulte vor dem Schöneberger Rathaus im Bericht dagegen als "schahtreue Studenten" verharmlost. Auch im Artikel über die Auseinandersetzungen vor dem Opernplatz wird in der "Bild"-Zeitung der Eindruck vermittelt, die Gewalt sei von den Demonstranten ausgegangen:

"Die Straßenschlacht begann, als das Kaiserpaar zur Aufführung der "Zauberflöte" in das Opernhaus fuhr. Die Halbstarken warfen Rauchbomben, rohe Eier, Milch- und Mehltüten sowie Sandsäcke. "Bild" (Berlin-Ausgabe/3. Juni 1967): "Wasserwerfer eingesetzt - Feuer auf dem Ku'damm"

Andere Zeitungen, wie zum Beispiel der "Tagesspiegel", beschreiben die Eskalation der Situation aus einer anderen Perspektive:

"Nachdem die Polizei über Lautsprecher mehrmals vergeblich dazu aufgefordert hatte, die Straße zu räumen, gingen die Polizeibeamten rigoroser vor und schlugen mit ihren Gummiknüppeln auf dichtgedrängt stehende Studenten und andere jugendliche Demonstranten ein." "Tagesspiegel" (3. Juni 1967): "Der Berlin-Besuch des persischen Kaiserpaars"

Auch die Darstellung der Ereignisse von konservativ ausgerichteten Tageszeitungen, etwa der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", weicht deutlich von den Schilderungen der "Bild"-Zeitung ab. "Der 'FAZ' kann man nicht unbedingt nachsagen, dass sie sehr viele Sympathien für die Studentenrevolte hatte, trotzdem finden sie in der 'FAZ' ganz kritische Berichte über das Verhalten der Polizei", so Diewald-Kerkmann. Die Parole "Enteignet Springer" wird durch die einseitige Berichterstattung der "Bild"-Zeitung über die Ereignisse in linken Kreisen immer populärer.

"Der Tod Benno Ohnesorgs bedeutete eine Zäsur und stellte ein Schlüsselereignis in der Durchbrechung der Gewaltschwelle gegen Personen dar", erläutert Gisela Diewald-Kerkmann. Bis dahin sei die Gewalt gegen Personen in der Studentenbewegung ein Tabu gewesen. "Nach dem 2. Juni brach das partiell auf und es wurde zunehmend diskutiert, ob man nicht gewaltsam vorgehen müsse."

Anti-Springer-Demos nach Attentat auf Rudi Dutschke

Einen weiteren Höhepunkt erlebt die Konfrontation von Springer-Verlag und Studentenbewegung am 11. April 1968. Rudi Dutschke, der Wortführer der studentischen Opposition, wird vor dem Zentrum des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) am Kurfürstendamm in Berlin niedergeschossen. Mit mehreren Schusswunden wird er lebensgefährlich verletzt ins Krankenhaus eingeliefert.

Während Dutschke im Krankenhaus um sein Leben kämpft, versammeln sich mehr als 2.000 Studierende im Audimax der Technischen Universität Berlin. Die aufgewühlte SDS-Bewegung macht die verbalen Kampagnen des Springer-Verlags gegen Dutschke für das Attentat verantwortlich. Von der Technischen Universität zieht die Bewegung zum Springer-Verlagsgebäude in der Kochstraße. Das erklärte Ziel: die Auslieferung der "Bild"-Zeitung zu verhindern. Unter den Demonstrierenden ist auch die spätere RAF-Terroristin Ulrike Meinhof. Das Verlagsgebäude ist vorsorglich durch Polizeikräfte abgesichert. Es kommt zur Eskalation: Pflastersteine werden geworfen, Auslieferungsfahrzeuge des Springer-Verlags mit Molotow-Cocktails in Brand gesetzt. Die Polizei geht mit Wasserwerfern gegen die Demonstranten vor. Ein Presse-Fotograf und ein Student kommen bei den Ausschreitungen ums Leben.

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Rudi Dutschke: "Staatsfeind Nr.1"?

Hartnäckig hält sich die Behauptung, die "Bild"-Zeitung hätte Rudi Dutschke unmittelbar vor dem Attentat als "Staatsfeind Nr.1" bezeichnet. Einen Beleg dafür gibt es jedoch nicht. "Dass der Begriff 'Staatsfeind' tatsächlich in diesem Zusammenhang auf Dutschke angewendet worden ist, kann ich nicht bestätigen", sagt Gisela Diewald-Kerkmann. "Ich habe keine Quellen gefunden, wo formuliert worden ist, er sei ein Staatsfeind." Dutschke sei jedoch massiv als "Rädelsführer" und "Krawallmacher" diffamiert worden. Als Beispiel nennt sie den Kommentar "Stoppt den Terror der Jung-Roten jetzt!". Darin heißt es unter anderem:

"Man darf über das, was zur Zeit geschieht, nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Und man darf auch nicht die ganze Drecksarbeit der Polizei und ihren Wasserwerfern überlassen." "Bild" (Berlin-Ausgabe/2. Februar 1968): "Stoppt den Terror der Jung-Roten jetzt!"

Bebildert ist der Kommentar mit einem Porträtfoto von Dutschke. "Das ist ja indirekt eine Aufforderung: 'Geht gegen Dutschke vor", schildert die Professorin für Zeitgeschichte. "Das Attentat auf Dutschke ist insofern schon vor dem Hintergrund einer systematischen Presse-Kampagne einzuordnen."

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Wenige Tage nach den Ausschreitungen des 11. April 1968 schreibt Ulrike Meinhof in der linken Zeitschrift "konkret" eine Kolumne mit dem Titel "Vom Protest zum Widerstand", in dem sie die Ausschreitungen als notwendigen "Widerstand" verteidigt: "Diejenigen, die von politischen Machtpositionen aus Steinwürfe und Brandstiftung hier verurteilen, nicht aber die Hetze des Hauses Springer, nicht die Bomben auf Vietnam, nicht Terror in Persien, nicht Folter in Südafrika, diejenigen, die die Enteignung Springers tatsächlich betreiben könnten, stattdessen Große Koalition machen, die in den Massenmedien die Wahrheit über BILD und BZ verbreiten könnten, stattdessen Halbwahrheiten über die Studenten verbreiten, deren Engagement für Gewaltlosigkeit ist heuchlerisch, sie messen mit zweierlei Maß." Das "Establishment" habe zu begreifen, dass es nur ein Mittel gebe, Ruhe und Ordnung dauerhaft wieder herzustellen: die Enteignung Springers.

"Nur ein minimaler Teil forcierte den bewaffneten Kampf"

Die Worte Ulrike Meinhofs zeigen, dass sich Ende der 60er-Jahre in Teilen der linken Protestbewegung eine latente Gewaltbereitschaft entwickelt. Zusammenstöße mit der Polizei tragen zur Verschärfung der Ablehnung staatlicher Institutionen bei. "Gerade in radikalen Milieus wurde das staatliche Gewaltmonopol zunehmend in Frage gestellt", bestätigt Diewald-Kerkmann. Die Professorin betont aber, dass dies vor allem zu Zusammenstößen mit der Polizei bei Demonstrationen oder bei Hausbesetzungen führte und nicht zu Straftaten in Zusammenhang mit terroristischen Aktivitäten. Einen linearen Übergang von der Studentenbewegung zur Roten Armee Fraktion dürfe man nicht ziehen: "Ein Großteil der studentischen Protestbewegung ging in politische Parteien und Gruppen und wählte den 'langen Marsch durch die Institutionen'". Die Mehrheit habe sich vermutlich sogar ganz aus dem politischen Geschehen ins Private zurückgezogen. "Nur ein minimaler Teil forcierte dann später den bewaffneten Kampf."

Erste RAF-Generation nach "Mai-Offensive" verhaftet

Für die RAF endet die "Mai-Offensive", bei der neben dem Springer-Hochhaus auch mehrere Quartiere der US-Armee in Deutschland, das Landeskriminalamt in München, die Polizeidirektion in Augsburg und der Wagen eines Bundesrichters angegriffen werden, wenige Wochen nach dem Anschlag abrupt. Anfang Juni 1972 gehen der Polizei nach einer Großfahndung viele RAF-Mitglieder ins Netz, darunter auch die Führungsfiguren Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof. Doch dem RAF-Terror ist damit noch lange keine Ende gesetzt - im Gegenteil. Die zweite Generation der RAF wächst heran - und mit ihr noch mehr Gewalt. Seinen Höhepunkt erreicht der RAF-Terror im Deutschen Herbst 1977 mit der Entführung und Ermordung von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer sowie der Entführung der Lufthansa-Maschine "Landshut".

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Schlussabstimmung über die Anti-Terror-Gesetze am 16. Februar 1978 im Deutschen Bundestag in Bonn: Dieter Lattmann (vorn 2.v.r.) gehört zu den vier SPD-Abgeordneten, die gegen die Fraktionsmehrheit votieren. © picture-alliance/ dpa Foto: Egon Steiner
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NDR 90,3 | Kulturjournal Spezial | 29.07.2020 | 20:00 Uhr

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