Frauen schlagen als Volksfest
Auf der Nordseeinsel Borkum gibt es jenseits der touristischen Idylle einen verborgenen Brauch: Am 5. Dezember feiern die Insulaner das Fest "Klaasohm", bei dem auch Gewalt gegen Frauen zelebriert wird. Die Presse ist dabei nicht willkommen - Kritik ist unerwünscht.
Das Ritual ist streng organisiert. Veranstaltet wird es vom Verein Borkumer Jungens, der nur Borkumer Männer über 16 Jahren aufnimmt. Sechs aus ihren Reihen werden für das Fest zu Klaasohms ernannt - kostümierten Fabelwesen mit Fellmasken, Gewändern und Kuhhörnern. Begleitet werden sie von einem Mann in Frauenkleidern, der Wiefke genannt wird und von anderen Mitgliedern ihres Vereins, die als Fänger fungieren. Gemeinsam ziehen sie durch die Straßen, kehren in Häuser und Kneipen ein und feiern mit der Inselgemeinschaft.
Der Teil des Fests, der nicht nach draußen dringen soll, ist eine abendliche Jagd über die Insel, bei dem es zu Gewalt gegen Teilnehmerinnen kommt: Die Fänger gehen dabei auf die Suche nach jungen Frauen, die festgehalten und an die Klaasohms übergeben werden. Unter dem Beifall des Publikums schlagen die Klaasohms den Frauen mit Kuhhörnern auf den Hintern.
Vom Stolz zum Schmerz
Unsere Recherche zeigt: Was als heiteres Fest beginnt, endet oft in Schmerz und Erniedrigung. Die Frauen wissen, was an dem Abend passieren kann. Dennoch nehmen viele an dem Fest teil, das die Borkumerinnen und Borkumer als große Zusammenkunft feiern.
Betroffene Frauen berichten, dass das, was sich anfänglich wie ein Abenteuer anfühlte, schnell kippen könne. Sie berichten von aggressiven Übergriffen. "Da fühlst du dich natürlich ängstlich. Ich meine, du weißt ja, das wird gleich hammermäßig weh tun", erzählt eine anonyme Interviewpartnerin. "Ich hatte zu dem Zeitpunkt einfach mega Schmerzen und hab richtig geweint. Und war gleichzeitig wütend auf mich selbst, weil ich so dachte: Warum tue ich mir das gerade an? Warum bin ich mitgelaufen?" Vom Steißbein bis zur Kniekehle sei ihr Körper anschließend voller blauer Flecken gewesen.
Berichterstattung unerwünscht
Zur Tradition gehört offenbar auch, dass die Presse unerwünscht ist. Nur selten trauen sich Reporter zum Fest. Schon Aufnahmen aus dem Jahr 1987 zeigen, wie aggressiv die Reaktionen auf Journalistinnen und Journalisten ausfallen können. "Moin, NDR Fernsehen, dürfen wir reinkommen?" - "Nein, weg hier, raus hier, keine Diskussion, ihr haut ab!"
Auch in den sozialen Medien wird klar, dass Berichterstattung unerwünscht ist. "Der Klaasohm mag das nicht", heißt es in einem Post. "Damit Klaasohm den Borkumern als höchster Feiertag und identitätsstiftendes Fest auch erhalten bleibt, muss der Bekanntheitsgrad geringgehalten werden. Eine Aufgabe, die den Verein Borkumer Jungens e.V. 1830 konstant beschäftigt. Bitte erweise deinen Respekt und verbreite nichts." Einem Team von STRG_F und Panorama - die Reporter ist es gelungen, verdeckte Aufnahmen der Frauenjagd zu machen.
Kritik und Konsequenzen
Auf Borkum erzählt man sich, der Brauch gehe auf eine alte Walfänger-Tradition zurück. Während die einen das Fest als identitätsstiftend und wichtig sehen, lehnen andere die Praxis strikt ab. Borkumerinnen, die mit dem Fest aufgewachsen sind, berichten uns anonym von ihren Erlebnissen. "Man steht halt im Mittelpunkt, das ganze Publikum steht drum. Die machen sich alle lustig … und es ist beklemmend, beschämend, erdrückend", erzählt eine weitere Frau.
Manche Frauen versuchen, sich dem Fest zu entziehen, was jedoch nicht immer gelingt. "Ich müsste so 16, 17 Jahre alt gewesen sein", berichtet eine weitere Interviewpartnerin. "Da bin ich in Richtung nach Hause gelaufen. Auf einmal fuhr ein Transporter an mir vorbei, ist stehengeblieben. Drei mir bekannte Jungs sind aus dem Auto gesprungen, haben mich gepackt, an Händen und Füßen, und wollten mich in dieses Auto reinzerren. Ich habe dann versucht, mich mit Händen und Füßen zu wehren, also körperlich und verbal. Dieser Kampf hat bestimmt gute zehn Minuten gedauert."
Übergriffe gegen Frauen
Mit verdeckten Kameras dokumentieren wir die Frauenjagd. Die Klaasohms ziehen, begleitet von den "Fängern", durch die Straßen, kehren in Häuser ein. Alkohol fließt. Wir sehen in dieser Nacht auch viele Frauen auf den Straßen. Sie nehmen freiwillig teil, haben offenbar Spaß. Manche verstecken sich, es wirkt manchmal wie ein Katz- und Mausspiel.
Wird eine junge Frau erwischt, halten die Fänger sie fest, bis die Klaasohms da sind. Kinder schauen zu, umstehende Männer und Frauen grölen, jeder Schlag wird gefeiert. Die Truppe zieht weiter, kehrt immer wieder auch in Häuser und Kneipen ein, feiert.
Gesellschaftlicher Druck
Ein ehemaliger Klaasohm sieht das inzwischen kritisch und bereut seine Teilnahme. Er erzählt uns: "Es wird nicht hinterfragt und es wird auch nicht erklärt. Und wenn man so sozialisiert wird, ist das halt normal. Das Frauenbild, das da durch die Hintertür kommt, finde ich schon ziemlich aussagekräftig. Wenn man sich einmal im Jahr das Recht rausnimmt, Frauen zu schlagen." Es bestehe eine Art Gruppenzwang, der viele Borkumer zwinge, zu schweigen oder mitzumachen, selbst wenn sie dagegen sind.
Reaktionen der Behörden
Schriftlich teilen die zuständige Polizei und Staatsanwaltschaft mit, in den zurückliegenden fünf Jahren seien keine Anzeigen von Frauen eingegangen, die dort verletzt worden sein sollen. Ein Interview lehnten die Polizei, der Veranstalter Verein Borkumer Jungens e.V. 1830 und der Bürgermeister der Insel ab.
Nur per Mail äußerte sich der Bürgermeister: "Das Klaasohmfest ist ein traditionelles Fest für Insulanerinnen und Insulaner, welches sich wie viele regionale Traditionen Auswärtigen nicht ohne Weiteres erschließt. Daher wird es nicht beworben und wir unterstützen die Erwähnung in den Medien nicht." Weiter schreibt er, dass kritische Stimmen sehr wohl auf der Insel Gehör finden und die allermeisten Borkumerinnen und Borkumer das Fest unterstützen.
Diskussion um den Wandel
Da die offiziellen Stellen vor Ort nicht mit uns sprechen, fragt das Recherche-Team auf Landesebene an. Der niedersächsischen Staatssekretärin für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Gleichstellung, Christine Arbogast, war der Brauch auf Borkum bislang nicht geläufig. Sie bewertet die Aufnahmen von der Insel aus dem Jahr 2023 als befremdlich. Man könne nicht aus Spaß andere Menschen blau schlagen. "Ich finde es extrem schwierig, wenn Frauen, egal an welchem Tag im Jahr das Gefühl haben, sie können sich nicht frei draußen bewegen. Das ist eigentlich etwas, was nicht sein darf", sagt Arbogast.
Die Staatssekretärin glaubt nicht, dass ein Impuls von außen eine Debatte über die Tradition auf der Insel auslösen kann: "Die Borkumerinnen und Borkumer wären meines Erachtens in der Verantwortung, auch mal drüber zu diskutieren und nachzudenken, ob das heute in der Form noch zeitgemäß ist."