Emotionales Schulprojekt: Schwester findet Grab des Bruders
Halina Woroncow ist aus den USA nach Ostfriesland gereist, um zum ersten Mal das Grab ihres Bruders zu besuchen. Er starb 1946, als ihre Eltern als Ex-Zwangsarbeiter durch Deutschland irrten.
Nachdenklich steht Halina Woroncow vor der Kriegsgräberstätte am Rand des katholischen Friedhofs in Langholt bei Rhauderfehn (Landkreis Leer). Die 65-Jährige ist extra aus den USA, genauer aus Minnesota, angereist - nach Ostfriesland, um zum ersten Mal das Grab eines Bruders zu besuchen, den sie nie kennengelernt hat. Und um dabei zu sein, wenn eine Gedenktafel mit der Geschichte dieses Bruders und ihrer Eltern enthüllt wird.
Ihre Eltern wurden in Deutschland zur Arbeit gezwungen
Woroncow ist die Tochter ehemaliger Zwangsarbeiter. Ihre Eltern, Evgenia und Timofei, stammen aus der Region um Smolensk in Russland. Im Zweiten Weltkrieg wurden sie unfreiwillig nach Deutschland gebracht, mussten gegen ihren Willen auf einem Bauernhof in Thüringen arbeiten. Als der Krieg zu Ende war, irrten sie wie Zehntausende andere Menschen durch Europa, auf der Suche nach einer neuen Heimat.
Der Bruder wird im Durchgangslager krank
"Ich wusste natürlich, dass meine Eltern in dieser Zeit schon ein Kind bekommen hatten", erzählt Halina Woroncow. "Und ich wusste, dass dieses Baby in einem Durchgangslager in Deutschland krank geworden ist. Vermutlich eine Lungenentzündung. Meine Mutter hat mir erzählt, wie sie versucht hat, das Fieber des Kleinen mit kaltem Wasser zu senken. Aber er ist in ihren Armen gestorben. Aber wo genau das passiert ist und wo mein Bruder begraben liegt, das wusste ich nie."
Auf vielen Gräbern steht: "Polenkind, unbekannt"
Dass sie es nun weiß, hat Halina Woroncow einem Schulprojekt zu verdanken. Vor einem halben Jahr haben Schülerinnen und Schüler der Schule am Osterfehn gemeinsam mit ihrem Lehrer Torsten Bildhauer begonnen, sich genauer mit den Kriegsgräbern auf dem katholischen Friedhof in Langholt zu beschäftigen. Besonders mit den unbekannten Kleinkindern und Säuglingen, die hier bestattet sind. Mindestens 22 von ihnen liegen auf dem Friedhof, die Kinder von osteuropäischen Vertriebenen und Geflüchteten aus der Zeit kurz nach Kriegsende. Die meisten von ihnen sind namenlos – die Bezeichnung "Polenkind, unbekannt" taucht immer wieder im Gräberverzeichnis aus dieser Zeit auf.
Schülerinnen und Schüler kontaktieren Schwester
Doch die Schülerinnen und Schüler forschen nach. Mit Hilfe der Kirchengemeinde und des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge gelingt es ihnen, zumindest einem dieser Kinder seinen Namen zurückzugeben: Victor Woroncow, geboren im Juli 1945, gestorben ein halbes Jahr später. Und sie finden seine Schwester Halina im fernen Minnesota.
Halina Woroncow besucht das erste Mal das Grab ihres Bruders
"Ich war vollkommen überrascht als die Nachricht aus Deutschland kam", berichtet Halina Woroncow. "Ich wusste natürlich, dass ich einen Bruder hatte. Aber er war eine abstrakte Geschichte. Jetzt, wo ich an seinem Grab stehe, ist er greifbar. Ich habe ein Gespür dafür, wer mein Bruder war. Und das trage ich nun in meinem Herzen." Als sie das sagt, schimmert es feucht in ihren Augen.