Geschichtsklitterung in der Kultur damals und heute
Das Stadionlied des FC St. Pauli sorgt wegen der Nazi-Vergangenheit seines Texters für Diskussionen nicht nur beim Fußball-Bundesligisten. Ein Blick in die Geschichte zeigt, wie in der Vergangenheit mit Geschichtsklitterung umgegangen ist.
Herbert von Karajan, der gefeierte, von vielen geradezu verehrte, Dirigent erklärte in Interviews, er brauche für Werke wie Mahlers 9. Sinfonie größtmögliche künstlerische Freiheit: "Ich bin nicht geboren, um kommandiert zu werden." Auf die Frage, ob er selbst kommandieren möchte, antworte Karajan: "Ja. Ich kann nicht mit Leuten, die was anderes wollen oder mich irgendwo hinführen wollen, das ist nicht möglich." Eine erstaunliche Selbstdarstellung, wenn man bedenkt: Karajan ist gleich zweimal in die NSDAP eingetreten, bevor er zu einem weltweit gefeierten Dirigenten wurde.
Wenn es in späteren Interviews um Nazi-Deutschland und seine Haltung dazu ging, wich der Dirigent aus, gab sich als Genie, dem es nie um mehr als um die Musik ging. Er habe mit Hitler gesprochen, erzählt Karajan, "vielleicht drei Minuten, in der Pause der Meistersinger." Zudem dirigierte an Hitlers Geburtstag, widersprach zwölf Jahre nicht den Machthabern - all das hat seinem Ruhm nicht geschadet. Der Historiker Michael Wolfssohn hat seit Ende 2024 den offiziellen Auftrag des "Eliette und Herbert von Karajan"-Instituts Karajans Nazi-Vergangenheit zu erforschen. Ergebnisse der Studie wurden für das Frühjahr 2026 angekündigt.
Paul Lincke: Komponist für Operetten und Propaganda-Lieder
Paul Lincke ist Schöpfer einiger Operetten-Hits wie "Das macht die Berliner Luft" oder "Schenk mir noch ein kleines bisschen Liebe". Er war Komponist, Kapellmeister und Namensgeber der seit 1955 erst zweijährlich, später jährlich vergebenen Auszeichnung im niedersächsischen Kurort Hahnenklee, heute ein Ortsteil von Goslar. Der Paul-Lincke-Ring wird an Persönlichkeiten verliehen, die sich besonders um die deutsche Unterhaltungsmusik verdient gemacht haben. Unter den bisherigen Preisträgern sind Namen zu finden wie Udo Jürgens, René Kollo, Peter Maffay und 2001 mit Nicole erstmals eine Frau, sowie Udo Lindenberg oder Axel Bosse.
Regener lehnt Paul-Lincke-Ring ab
Voriges Jahr sollte der Preis an den Musiker und Schriftsteller Sven Regener gehen. Doch im Januar 2024 hieß es auf einmal: Die Stadt Goslar setze den Preis in Abstimmung mit Regener aus. Hintergrund sei die Nähe des Namensgebers Paul Lincke zum NS-Regime. Vor wenigen Wochen, nach intensiven Diskussionen, kam das öffentliche Statement der Fachjury: "Auch für die kontinuierliche und wertschätzende Würdigung der bisherigen Preisträgerinnen und Preisträger ist eine klare Abgrenzung von der belastenden Historie erforderlich. Der transparente und wissenschaftlich fundierte Erneuerungsprozess, der in Goslar und Hahnenklee eingeleitet worden ist, wird von der Fachjury begrüßt und unterstützt."
Wir der Preis in "Der "Goldene Ton" umbenannt?
Überraschend ist die Diskussion um Paul Lincke nicht: "Unsere braunen Jungens", "Unsere braunen Mädels", "Deutsche Soldaten" oder "Deutschland muss siegen" sind Titel von Stücken, die er zwischen 1933 und 1944 komponiert hat. Erst 80 Jahre später kamen Zweifel auf, ob man einen der renommiertesten Musikpreise des Landes an eine Person ungeklärter Nazi-Herkunft knüpfen möchte. Demnächst wird entschieden, ob der Preis ab jetzt "Der Goldene Ton" heißen soll.
Ernst Jünger: Umstritten, aber mit Goethepreis geehrt
Die Liste der Künstler, Schauspielerinnen oder Schriftsteller ist lang, die man jahrzehntelang gelegentlich geschichtsklitternd akzeptiert hat. Der Schriftsteller Ernst Jünger ist unter anderem wegen seines glühenden Nationalismusses bis heute umstritten. Als Kriegsheld des Ersten Weltkriegs hat er sich einer Karriere unter den Nazis verweigert, wollte nicht für den Völkischen Beobachter arbeiten - wirklich distanziert hat er sich von den Machthabern jedoch nicht.
Den Vorwurf, aus ästhetischen Gründen habe er nichts mit diesen Proleten zu tun haben wollen, wie es einmal in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung formuliert wurde, konterte er in einem Interview mit den Worten: "Ich habe auch mit Goebbels manche Nacht verbracht." Unter viel Protest erhielt Jünger 1985 den Goethepreis der Stadt Frankfurt. Helmut Kohl bezeichnete ihn kurz darauf als einen der wenigen großen Schriftsteller in unserem Land.
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