Magnus Brechtken © imago

Magnus Brechtken: "Politische Memoiren beeinflussen die Geschichtsschreibung"

Stand: 26.11.2024 10:39 Uhr

Warum braucht scheinbar jede Politikerin und jeder Politiker eine eigene Biografie? Historiker Magnus Brechtken befasst sich seit 30 Jahren mit der Erforschung von politischen Memoiren. Ein Interview.

von Andrea Schwyzer

Altbundeskanzlerin Angela Merkel bringt ihre Memoiren raus. Und damit reiht ihr Buch sich ein in Politiker-Biografien von Kohl, Brandt, Gorbatschow, Churchill, Thatcher, Nixon, Kissinger, Obama, Harris und vielen weiteren, auch nicht so bekannten Regierungsverantwortlichen. Merkels Autobiografie erscheint bei Kiepenheuer und Witsch, verfasst zusammen mit der politischen Beraterin Beate Baumann. Es gab einen Vorabdruck in der ZEIT, aber das ganze Buch gibt es erst seit Dienstag zu lesen.

Warum braucht scheinbar jede Politikerin und jeder Politiker eine eigene Biografie?

Magnus Brechtken: Wer in die Politik geht, hat schon mal per se ein etwas größeres Ego als der Durchschnittsmensch. Natürlich wollen diese Menschen festhalten, was sie erreicht haben. Das ist überhaupt kein neues Phänomen. Politische Memoiren gibt es seit dem 16. Jahrhundert. Im Grunde ist diese Art, sich zu erinnern immer auch ein Versuch, Einfluss auf die Zeitgenossen zu nehmen, wie sie über einen denken, als auch auf die Geschichtsschreibung. Denn zukünftige Geschichtsschreiber werden sich natürlich anschauen, was die Person, die einige Jahre ein politisches Amt hatte, selbst dazu geschrieben hat.

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Was heißt das konkret? Wie kann eine Biografie Einfluss nehmen? Gibt es Beispiele?

Brechtken: Ja, es gibt sehr viele Beispiele. Das hat vor allem damit zu tun, dass man bis vor einigen Jahrzehnten noch eine sehr unkritische Haltung gegenüber solchen Autobiografien hatte. Diese Erinnerungswerke wurden oft als eine verlässliche Quelle dafür genommen, was jemand erlebt hat und wie er das darstellt. Das heißt, wenn die Lügen nicht zu offensichtlich waren. Es gibt dafür auch Beispiele, ein bekanntes ist Bernhard von Bülow, der war Reichskanzler von 1900 bis 1909 im deutschen Kaiserreich. Er hat seine Biografie geschrieben, als er in Rom lebte, das sind vier Bände. Er hat sie aber bewusst erst nach seinem Tode veröffentlichen lassen. Die vier Bände waren voller Märchen und Lügengeschichten, sodass die Leute nur den Kopf geschüttelt haben. Einer der Rezensenten hat damals dazu geschrieben: Bernhard von Bülow sei der einzige Mensch, dem es gelungen sei, nach seinem Tod noch Selbstmord zu begehen. Die meisten versuchen, die Dinge nicht ganz so offensichtlich falsch darzustellen, sondern ihnen den eigenen Spin zu geben, die eigene Version zu lancieren. Das macht es natürlich auch spannend.

Mit wie viel Misstrauen muss ich eine Biografie lesen, auch heute noch?

Brechtken: Die meisten Politikerinnen und Politiker heute wissen natürlich, dass man damit anders in die Öffentlichkeit tritt als noch vor 40 oder 50 Jahren. Die stellen sich darauf ein. Wenn man sich zum Beispiel die vor kurzem erschienene Autobiografie von Wolfgang Schäuble anschaut, dann sieht man sehr genau, dass er daraus reflektiert, wie Kritiker, Leserinnen und Leser mit diesem Text umgehen werden. Das macht er, indem er schon vorwegnimmt, antizipiert und in einen zukünftigen Dialog eintritt. Ich würde bei Angela Merkel ähnliches annehmen. Sie hat das sehr sorgfältig mit der politischen Beraterin Beate Baumann vorbereitet und ist sich sicher bewusst, dass sehr viele Menschen da mit sehr unterschiedlichen und auch kritischen Blicken darauf schauen werden. Mit Blick darauf wird sie auch bestimmte Formulierungen abgewogen haben, um genau in diesen Diskurs auf einer höheren Ebene einzutreten.

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Die Forschung der Memoirenliteratur gibt es seit den 1980er-Jahren. Sie selbst befassen sich schon seit 30 Jahren mit diesem Genre. Was interessiert Sie daran?

Brechtken: Das war natürlich vor allem die Feststellung, dass man merkt, dass politische Memoiren sehr einflussreich in der Geschichtsschreibung sind. Das bekannteste Beispiel in den internationalen Publikationen ist Winston Churchill. Der hat nach 1945 die Wahl verloren und hatte Zeit, sechs Bände Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg zu schreiben. Von ihm ist dieses schöne Zitat überliefert: 'Die Geschichte wird freundlich zu mir sein, weil ich sie selber schreiben werde.' Das war dann auch so. Er hatte einen privilegierten Zugang zu vielen Dokumenten, auch zu internationalen Teilen der Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Er hat diese sechs Bände sukzessive in drei Jahren auf den Markt gebracht. Die haben mehr als 20 Jahre lang die Geschichtsschreibung über den Zweiten Weltkrieg beeinflusst und dominiert. Als die Dokumente, die ihm zugänglich waren, auch der Allgemeinheit zugänglich wurden - also der Historikerschaft - hat man festgestellt, dass er doch sehr viele Spins da reingeschrieben hat. Damit ist dann auch die Skepsis gewachsen.

Natürlich haben sich Historiker immer gefragt: Wie weit kann man denen trauen? Auf der anderen Seite wissen Politiker, dass man dadurch, dass man einen privilegierten Zugang hat, auch Dinge lange beeinflussen kann. Ich nehme jetzt mal das Beispiel von Henry Kissinger. Der hat zwei große Bände und spätere weitere Bände Erinnerungen geschrieben und hat seine eigenen Dokumente nur ausgewählten Personen zugänglich gemacht, sodass es einen Wettkampf zwischen Geschichtsforscherinnen und -forschern und Journalisten gab.

Inwiefern haben sich diese Memoiren von Politikerinnen und Politikern in den vergangenen Jahren oder im letzten Jahrhundert verändert?

Brechtken: Die Politiker wissen, dass sie auf ein anderes, sehr viel kritischeres und erforschenderes Publikum treffen. Das heißt, man schaut sehr viel kritischer hin, ob die Gespräche wirklich so stattgefunden haben. Was haben die Leute tatsächlich gesagt? Ist das repräsentativ? Deswegen ist man vorsichtiger. Man kann nicht mehr das Blaue vom Himmel erzählen. Das war früher anders. Ein Beispiel dafür ist Albert Speer, mit dem ich mich sehr intensiv beschäftigt habe. Er konnte in den 1960er-Jahren Memoiren veröffentlichen, die voll von Märchen und Fabeln waren. Das ging, weil er Helfer wie Wolf Jobst Siedler und Joachim Fest hatte, die ihm einen schönen Stil besorgt haben. Außerdem ging das, weil es eine Öffentlichkeit gab, gerade eine deutsche Öffentlichkeit, die gerne die Erinnerungen von Albert Speer - also die Geschichten über das Dritte Reich - lesen wollte, weil sie damit eine eigene Entschuldungsgeschichte lesen konnten. Das war sehr willkommen, auch wenn das vielfach nur Märchen waren.

Das Gespräch führte Andrea Schwyzer.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 26.11.2024 | 16:00 Uhr

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