Vereint gegen Hitler
Lübeck ist eine zutiefst protestantisch geprägte Stadt - aber am Wochenende wird hier im hohen Norden ein katholisches Großereignis stattfinden: eine Seligsprechung von drei Geistlichen aus Schleswig-Holstein. Mindestens 9.000 Besucher sollen kommen, 60 Reisebusse werden erwartet - mehr als 20 katholische und evangelische Bischöfe sind dabei.
Denn es geht auch um einen evangelischen Pastor, der nicht seliggesprochen werden kann, aber ins Gedenken mit eingeschlossen wird. Er und seine drei katholischen Kollegen gelten als Märtyrer. Sie wurden wegen ihres Widerstands im Dritten Reich von den Nazis hingerichtet. Denn sie haben das ausgesprochen, was sich die meisten nicht zu sagen trauten.
Rückblick: Eine verhängnisvolle Predigt
Es ist die Nacht vom 28. zum 29. März 1942. Ein verheerender Bombenangriff der Royal Air Force trifft Lübeck. Es ist das erste Flächenbombardement einer deutschen Stadt. Die Lübecker sind geschockt. Am folgenden Sonntag predigt der evangelische Pfarrer Karl Friedrich Stellbrink in der Lutherkirche.
"Nach diesem Erlebnis hat er in seiner Predigt gesagt: 'Jetzt spricht Gott mit lauter Stimme.' In dieser Predigt war ein Spitzel. Und der hat das Ganze dann interpretiert - fälschlicherweise, obwohl das Wort Gottesgericht nicht gefallen ist. Der hat dann gesagt, Stellbrink habe den Bombenabwurf der Briten als Gottesgericht dargestellt", so Historiker Peter Voswinckel.
Nazis nehmen Pfarrer und vier Kapläne fest
Der evangelische Pfarrer Stellbrink wird einige Tage später von der Gestapo verhaftet. Und die hat noch andere im Visier: die drei katholischen Kapläne Eduard Müller, Hermann Lange und Johannes Prassek werden ebenfalls festgenommen. Die Nazis haben Angst vor einem überkonfessionellen Widerstand. Doch den gibt es nicht. Was die vier Geistlichen verbindet, ist die Abscheu vor der menschenverachtenden Politik der Nazis: besonders die gezielte Tötung von behinderten Menschen im Euthanasie-Programm. Bischof von Galen hatte diese Praxis öffentlich angeprangert. Die vier verbreiten seine Predigten.
Geistliche in der Opposition
Auch der brutale Angriffskrieg im Osten und die Religionsfeindlichkeit der Nationalsozialisten - all das führt die vier Geistlichen in immer stärkere Opposition. Und dafür überwinden die drei katholischen Kapläne und der evangelische Pfarrer sogar ihre konfessionellen Differenzen. Sie sprechen sich ab und tauschen Informationen aus, hören BBC und andere Sender. Das Abhören von sogenannten Feindsendern wurde im Dritten Reich jedoch mit dem Tode bestraft. Tagtäglich lebt Karl Friedrich Stellbrink in der Angst, entdeckt zu werden. Einmal macht sich seine Tochter Waltraud am Radio zu schaffen und erntet die einzige Ohrfeige ihres Lebens.
Auch die katholischen Kapläne riskieren ihr Leben: Sie veranstalten Gesprächsabende, auf denen der Nationalsozialismus offen kritisiert wird. Johannes Prassek geht noch weiter: Er betreut polnische Zwangsarbeiter.
Moralische Unabhängigkeit bis zum Tod
Nach einer einjährigen Untersuchungshaft werden die vier Geistlichen im Juni 1943 vom Volksgerichtshof wegen Hochverrats, Rundfunkverbrechen und Feindbegünstigung zum Tode verurteilt.
Es war ja in der übrigen bürgerlichen Gesellschaft, gerade unter Akademikern, dieses Schweigen und sich Ducken. Obwohl man sicherlich ein Unrecht empfunden hatte. Man hat das wahrgenommen. Aber bloß nicht den Mund aufmachen. Angst und Schrecken waren verbreitet. Da hat Prassek in einer Predigt klar gesagt: 'Wer soll denn die Wahrheit sagen, wenn nicht wir?'
"Vormittags war die Verhandlung und nachmittags durften wir ihn besuchen", erinnert sich Waltraud Kienitz, Tochter des Pfarrers Stellbrink. "Da durften wir ihn auch umarmen. Er saß uns gegenüber und strahlte uns an. Das war so ein glückseliges Strahlen, das kann ich fast nicht beschreiben." Im Abschiedsbrief an seine Frau schreibt Stellbrink: "Wahrlich, es ist nicht schwer zu sterben und sich in Gottes Hand zu begeben." Und Prassek notiert in seiner Bibel: "Wer sterben kann, wer will den zwingen." Die vier bewahren sich ihre moralische Unabhängigkeit - bis zum Schluss.
Lübecker Märtyrer
Johannes Prassek, Eduard Müller, Hermann Lange und Karl-Friedrich Stellbrink sind für ihre Haltung im Nationalsozialismus in den Tod gegangen. Heute gelten sie als Lübecker Märtyrer. Als Menschen, deren Widerstand vielleicht gering war. Die keine Bomben gelegt oder Attentatspläne gegen Hitler geschmiedet haben. Aber die in gewissenloser Zeit auf ihr Gewissen und ihren Glauben vertrauten und ihre Zweifel kundtaten - und deren Handeln damit bis heute beispielhaft ist.