War Papa ein NS-Verbrecher?
"Der hat Hitler nur die Hosen gebügelt". Diesen Satz hat Jürgen Gerks immer wieder über seinen Vater gehört. Die Hände des kräftigen Mannes beginnen zu zittern, wenn er über seine Kindheitserinnerungen spricht. Gerks war sieben, als sein Vater starb. Selbstverständlich hat er den Satz geglaubt, so wie jedes Kind auf das vertraut, was seine Familie ihm erzählt. Erst vor zwei Jahren, als Gerks feststellte, dass er eigentlich gar nichts von seinem Vater weiß, kam ihm der Verdacht, dass da mehr gewesen sein müsse. "Mir fielen Bilder meines Vaters in Polizeiuniform in die Hände, die so gar nicht zu denen passten, die ihn als liebevolles Familienoberhaupt zeigen", sagt Gerks. Das war der Moment, in dem er begann, sich für Familienrecherche zu interessieren.
Großes Interesse an Familienforschung
Oliver von Wrochem ist Leiter des Studienzentrums der KZ-Gedenkstätte Neuengamme in Hamburg. Zweimal jedes Jahr organisiert er ein Seminar, in dem Menschen wie Jürgen Gerks erfahren, wie sie systematisch recherchieren können. "Ein Täter, Mitläufer, Zuschauer, Opfer in der Familie?", fragt von Wrochem in der Einladung. Auch wenn der Titel Unbehagen auslöst: Der Forschungstrieb in den Familien ist riesig. Fast immer melden sich doppelt so viele Interessenten, wie es Plätze gibt. "Mein persönlicher Eindruck ist, dass es eine gute Zeit ist, um zu fragen, weil der Abstand groß genug ist", sagt von Wrochem. "Die Angst, den Eltern strafrechtlich zu schaden, wenn Entdeckungen herauskommen, ist heute schwächer oder gar nicht mehr vorhanden."
Zu Hause regiert oft das Schweigen
Die Fragen der Teilnehmer ähneln sich. Sie kreisen immer wieder darum, was ihre Eltern und Großeltern zur NS-Zeit gemacht haben. Sei es bei der Wehrmacht oder der Marine, in Ghettos oder der Verwaltung. Zu Hause - so haben viele die Erfahrung gemacht - wird Prekäres oft verschwiegen. Ob Opa ein Mörder war, darüber will man lieber gar nicht erst nachdenken. "Im Privaten sind Erinnerungs- und Erzählmuster noch davon geprägt, dass Täter nicht bereit waren, sich selbst kritisch zu sehen", hat Historiker von Wrochem festgestellt. Verdachtsmomente kommen Angehörigen oft nur deshalb, weil sie etwa beim Aufräumen auf alte Briefe stoßen, die sie nicht zu deuten wissen. Dabei hilft ihnen das Rechercheseminar weiter.
Feldpost als wertvoller Anhaltspunkt
Auch für Reimer Möller, Archivar der Gedenkstätte Neuengamme, ging es mit alter Post los. Als 18-Jähriger durchforstete er kartonweise Feldpostbriefe, die auf dem Dachboden seiner Eltern lagerten. Heute gibt Möller den Seminarteilnehmern Tipps, wo sie nach Informationen suchen können. Sein persönlicher Türöffner zur Geschichte seines Großvaters waren einst die Feldpostnummern. Jene fünfstelligen Zeichen auf Briefen, die dem Feind den Aufenthaltsort der jeweiligen Truppe verschleiern sollten. Jede militärische Einheit, auch jedes KZ hatte seine Nummer. Was Reimer Möller darüber herausfand, war "ein Schock". Sie brachten seinen Großvater in Verbindung mit dem Mord an Zivilisten in der Sowjetunion.
Erste Schritte zur Recherche: Diese Anlaufstellen helfen
Ein schmerzhafter, aber wichtiger Weg
Für Jürgen Gerks liegen die Antworten noch im Dunkeln. Über eine Anfrage bei der Auskunftsstelle der Wehrmacht in Berlin fand er heraus, dass sein Vater der Leibstandarte Adolf Hitlers angehörte - einem Truppenverband, der für zahlreiche Kriegsverbrechen verantwortlich ist. Gerks weiß, dass sein Vater beim Russland-Feldzug an der Front gewesen ist, dass er vermutlich freiwillig diesen Weg einschlug. Die Spur endet in Charkow, wo er in Kriegsgefangenschaft geriet. Doch was genau hat sein Vater getan? Das ist das Puzzle-Teil, das dem Sohn noch fehlt. Aus dem Recherche-Seminar nimmt er einige Hinweise mit, will unter anderem im Londoner Archiv für Kriegsverbrechen suchen. "Es ist ein schwerer Weg", sagt Gerks, "aber ich finde ihn für mich persönlich wichtig."