Urteil im Brokstedt-Prozess: Ibrahim A. "hatte sich entschlossen"

Stand: 15.05.2024 19:21 Uhr

Weil er in einem Regionalzug bei Brokstedt zwei Menschen getötet und vier schwer verletzt hat, ist Ibrahim A. zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Dem Gericht war am Mittwoch die Betroffenheit anzumerken, der Angeklagte wirkte wenig berührt.

von Friederike Schneider

Es sei eine erschütternde Tat, die zahlreichen Menschen Leid gebracht habe, sagte der Richter zu Beginn seiner Ausführungen am Landgericht Itzehoe (Kreis Steinburg). Nach Ansicht des Gerichts trug sich der Täter schon länger mit dem Gedanken, mehrere Menschen zu töten, weil er sich wiederholt ungerecht behandelt gefühlt habe und seine Wut abreagieren wollte.

An diesem Tag im Januar 2023 sei nach erneuten erfolglosen Behördengängen in Kiel der Entschluss gereift, diesen Gedanken in die Tat umzusetzen. So entwendete er in einem Supermarkt ein Messer, stieg zunächst in einen ICE und dann in einen Regionalzug, in dem er bei Brokstedt (Kreis Steinburg) zwei Menschen tötete und vier schwer verletzte.

Richter: Opfer willkürlich ausgewählt

Immer wieder betonte der Vorsitzende Richter Johann Lohmann in der Urteilsbegründung, dass der Täter - der am Mittwoch zu lebenslanger Haft verurteilt wurde - seine Opfer willkürlich ausgewählt habe, dass diese nichts mit seiner Unzufriedenheit zu tun hatten. "Was konnten diese Menschen im Zug für die Misere des Angeklagten? Gar nichts", sagte der Richter.

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Der Angeklagte Ibrahim A. wird von Justizbeamten in Handschellen und Fußfesseln in den Gerichtssaal im China Logistic Center in Itzehoe gebracht. © dpa-Bildfunk Foto: Christian Charisius

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Täter handelte heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen

Diese Willkür war für das Gericht mitentscheidend für die Einstufung der Taten als Mord und versuchter Mord. Es erkannte dabei zum einen in allen Fällen die niedrigen Beweggründe: "Es liegt denkbar fern, eine solche Tat aus solchen Motiven in irgendeiner Weise als menschlich nachvollziehbar einzustufen", so der Richter.

Außerdem stellte das Gericht in fünf von sechs Fällen Heimtücke fest. Die Opfer seien arg- und wehrlos gewesen und hätten in keinster Weise mit einem Angriff rechnen können. Besonders beim ersten Opfer, der ermordeten 17-Jährigen Ann-Marie, sei dieses Merkmal "auf tragische Weise geradezu mustergültig erfüllt", sagte der Richter.

Das einzige Opfer, bei dem das Gericht keine Heimtücke feststellen konnte, ist Ann-Maries 19-Jähriger Freund Danny. Er bemerkte den Angriff auf seine Freundin und ging dazwischen, woraufhin der Täter auch ihn attackierte. "Er warf sich sehenden Auges in die Gefahr", so Richter Lohmann. Danny bekam 13 Messerstiche ab, Ann-Marie 26. Beide erlitten gleich mehrere Verletzungen, die jede für sich genommen schon tödlich gewesen wären.

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Blick auf den Bahnhof in Brokstedt. © picture alliance/dpa Foto: Christian Charisius

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Gericht: Täter wollte möglichst viele Menschen töten

Nach den beiden Morden ging Ibrahim A. weiter durch den Zug und verletzte vier Menschen schwer. Aus Sicht des Gerichts handelte er in allen Fällen in Tötungsabsicht. Er habe von Anfang an das Ziel gehabt, mehrere Menschen umzubringen. Allein dass er sich das Messer besorgt hatte, bevor er in den Zug stieg, ergibt laut dem Richter "überhaupt keinen anderen Sinn, als dass er sich schon zu der Tat entschlossen hatte".

"Der ganze Zweck des Angriffs war die Tötung von Menschen. (...) Es ist eine Tat ohne Sinn, die uns fassungslos zurücklässt." Johann Lohmann, Vorsitzender Richter am Landgericht Itzehoe, bei der Urteilsbegründung

Außerdem wiesen frühere Äußerungen des Täters darauf hin, dass er sich schon länger mit einer solchen Idee auseinandergesetzt hatte. Der Richter sprach hier zum Beispiel den Vergleich mit dem Attentäter Anis Amri an. Das Gericht kam deshalb zu der Überzeugung: Der Angeklagte verfolgte das Ziel, eine Art Amoklauf zu begehen und zahlreiche Menschen zu töten. "Der ganze Zweck des Angriffs war die Tötung von Menschen", hieß es.

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Gericht hält Angeklagten für voll schuldfähig

Dass der Täter sich offenbar schon länger damit auseinandergesetzt habe, Menschen zu töten, zeigt nach Auffassung des Gerichts, dass er gefühlsmäßig in der Lage war, seine Tat zu begreifen. Das Gericht hält ihn für voll schuldfähig und folgte damit dem Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen. Es gebe keine Hinweise darauf, dass sich der Mann zur Tatzeit in einem dissoziativen Zustand befunden habe - und auch nicht auf eine Auseinandersetzung oder Bedrohung. Dennoch räumte der Richter ein, dass die Tat nicht verständlich, im landläufigen Sinn "wahnsinnig" sei. "Es ist eine Tat ohne Sinn, die uns fassungslos zurücklässt."

Richter lobt Zeugen für Aussagen trotz Belastung

Der Richter lobte dabei auch mehrmals die detaillierten, oft auch emotionalen Zeugenaussagen. Diese hätten maßgeblich dazu beigetragen, das Geschehen genau zu rekonstruieren. Dabei zeigte er sich sehr wertschätzend, dass die überlebenden Opfer teils trotz Panik und sichtlicher emotionaler Belastung aussagten.

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Besondere Worte fand der Richter für Felix Gerike, der letzte Angegriffene, der den Täter schließlich mit einem anderen Fahrgast überwältigte. Gerike habe es "in erstaunlicher Weise geschafft, sich dem Angriff zur Wehr zu setzen", sagte der Richter. Auch danach habe er es geschafft, sein Leben "zurückzuerobern". Gerike selbst war als Nebenkläger bei dem Prozess anwesend und folgte den Ausführungen aufmerksam. Nach dem Urteil sagte er: "Ich möchte hoffen, dass es jetzt erstmal vorbei ist für alle Beteiligten, dass ein neuer Abschnitt beginnt." Er bedankte sich bei allen Helfenden.

Auch die Anwältin der Familie der ermordeten Ann-Marie, Claudia Hauck-Delhay, sagte, es sei gut, dass die Ungewissheit nun ein Ende finde. Überraschend sei das Urteil für sie nicht. "Für uns war das vorhersehbar", sagte sie - insbesondere auch, was die Schuldfähigkeit des Angeklagten angeht. Der Verteidiger sagte, er wolle die schriftliche Urteilsbegründung abwarten, bevor er eine mögliche Revision prüfe.

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Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 15.05.2024 | 19:30 Uhr

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