Intersexualität: Leben zwischen den Geschlechtern
Früher hatte Stella* noch längere Haare und hat ab und zu Kleider getragen. Heute hat sie einen Kurzhaarschnitt und trägt lieber Fußballtrikots. Stellas Eltern achten besonders darauf, ihr Kind in keine Geschlechterrolle zu drängen, versuchen ihr den Weg in beide Geschlechter offen zu halten, denn Stella ist intersexuell. Auch wenn sie einen Mädchennamen trägt weiß Stella, dass sie weder ein Mädchen noch ein Junge ist. Ob überhaupt und wenn ja für welches Geschlecht sich Stella einmal entscheiden wird, das möchte ihr Ihre Mutter selbst überlassen.
Intersexuelle: nicht eindeutig zuzuordnen
Als die Eltern erfahren, dass ihr Kind ohne eindeutiges Geschlecht geboren ist, war das für die Familie zunächst ein Schock. Frau und Herr Bergmann* entschlossen sich, offen damit umzugehen. Im Alltag stoßen sie aber doch immer wieder an ihre Grenzen und erwischen sich dabei in Geschlechterrollen zu denken: "Vor allem in den ersten drei Jahre beobachtete ich mein Kind, versuchte herauszufinden, ob es sich eher wie ein Junge oder ein Mädchen benimmt."
Fast 100.000 Intersexuelle gibt es in Deutschland. Sie können nicht eindeutig dem weiblichen oder männlichen Geschlecht zugeordnet werden. Doch unter einigen Medizinern herrscht bis heute offenbar immer noch die Meinung vor, man müsse beim Auftreten von Intersexualität korrigierend eingreifen. Auch wenn die Ärzte mit geschlechtsanpassenden Operationen zögerlicher geworden sind.
"Es gibt ganz viele Variationen"
"Das Grunddilemma ist, dass wir fest daran glauben, dass es nur Jungen und Mädchen bzw. Frauen und Männer gibt. Das ist aber nicht so. Es gibt ganz viele Variationen zwischen diesen klar erkennbaren Welten", so Michael Wunder - Psychologe und Mitglied des Deutschen Ethikrats. Er warnt vor frühzeitlichen geschlechtsanpassenden Operationen bei Kindern, denn solch eine Operation sei ein Eingriff in tiefgreifende Persönlichkeitsrechte. "Uneindeutigkeit in der Geschlechtlichkeit wird quasi als unerträglich, als unbedingt zu korrigieren angesehen. Und es wird geschnitten, operiert, zugeordnet und nicht geschaut, was möchte eigentlich die Person selbst", sagt Wunder.
Immer anders gefühlt
Ihre Einwilligung zu einem geschlechtsangleichenden Eingriff konnte auch Michaela Raab nicht geben. Die 40-Jährige wächst als Mädchen auf. Auch wenn sie sich immer anders fühlt als ihre Mitschüler, verläuft Ihre Jugend eigentlich unkompliziert. Erst als sie 19 Jahre alt ist, sucht sie ärztlichen Rat, da sie noch nie eine Regelblutung hatte. Die Ärzte schlagen ihre eine Operation vor, klären sie allerdings nicht über das genaue Verfahren auf. Nach dem Eingriff muss Michaela Raab weibliche Hormone nehmen, doch die Östrogene zerstören ihren Körper, sie leidet unter Osteoporose, ist heute arbeitsunfähig. Zehn Jahre nach der Operation geht es ihr durch die Hormone so schlecht, dass sie eine Ärztin aufsucht. Der Medizinerin fällt auf, dass Michaela Raab intersexuell ist - und das bis zu diesem Zeitpunkt offenbar gar nicht wusste. "Erst seitdem ich Testosteron nehme geht es mir wieder einigermaßen besser - und seitdem ich weiß, warum ich mich so lange unwohl gefühlt habe", erzählt sie.
Die eigene Rolle finden
Professor Olaf Hiort leitet das Netzwerk DSD, das Kompetenzzentrum für Intersexuelle Kinder an der Uniklinik Lübeck. In den letzten Jahren beobachtete er, dass man mit geschlechtsanpassenden Eingriffen zurückhaltender geworden ist. "Früher hat man das Konzept gehabt, man sollte diesen Kindern nichts sagen und sie einfach in einem Geschlecht erziehen. Doch das hat in den letzten 20 Jahren dazu geführt, dass operierte Menschen heute sagen, das war ein Fehler." Für Michaela Raab kommt diese Einsicht zu spät: sie lebt heute nach außen in einer weiblichen Rolle aber offen als Intersexuelle. Sie hätte sich gewünscht, aufgeklärt worden zu sein, um ihre eigene Rolle schon früher selbst suchen und finden zu können.
*Name von der Redaktion geändert