Kinder auf dem Schulweg tracken? Das sagen Experten, Schulen und Eltern
Mit Smartwatches können Eltern ihre Kinder orten und jederzeit erreichen. Auch in Schleswig-Holstein werden die Geräte bei Schulkindern immer beliebter. Medienpädagogen und Lehrkräfte kritisieren das jedoch.
"Echte Bereicherung in Sachen Sicherheit", "praktisch für Eltern", "Fühlen Sie sich sicher und sorgenfrei, wenn Ihr Kind unterwegs ist" oder sogar "perfekt zum Schulstart" - so bewerben Telekommunikationsanbieter Smartwatches für Kinder. Mit den Geräten bekommen Kinder Nachrichten auf das Handgelenk und können auch selbst darüber ihre Eltern anrufen. Diese wiederum können per GPS ihr Kind orten.
Ein Viertel der Deutschen kann sich Tracking vorstellen
Auch mit Smartphones oder Air Tags am Schulranzen lässt sich der Weg der Kinder nachvollziehen. In einer Umfrage des Digitalverbandes Bitkom gaben sechs Prozent der Teilnehmenden an, schon einmal solche Geräte für das Tracking von Kindern genutzt zu haben, weitere 24 Prozent können sich das vorstellen.
Medienpädagoge: Smartwatches Thema auf jedem Elternabend
Auch bei Eltern in Schleswig-Holstein kommt das Thema immer mehr an. Das berichtet zum Beispiel Henning Fietze, Leiter des Offenen Kanals Schleswig-Holstein, der mit dem Projekt ElternMedienLotsen zum Umgang mit digitalen Medien berät. "Da geben wir seit 15 Jahren 200 Elternabende pro Jahr im Land. Seit zwei, drei Jahren kommt immer wieder von Eltern die Frage zu Smartwatches. Es wird eigentlich bei jedem Elternabend an Grundschulen inzwischen angesprochen", berichtet Fietze. Viele Eltern finden die Uhren demnach spannend, weil sie sie selbst nutzen und als schnelles Kommunikationsmittel zu ihren Kindern sehen - schließlich werde eine Nachricht auf der Uhr schneller gelesen als auf dem Handy, das vielleicht gerade in der Schultasche liegt.
Schulen kritisieren Ablenkung im Unterricht
Genau das wird an den Schulen aber zunehmend zum Problem. "Es ist natürlich immer eine Unterrichtsstörung, sie sind abgelenkt", erzählt Annette Grosse, Schulleiterin der Poul-Due-Jensen-Schule in Wahlstedt (Kreis Segeberg). Die Kinder reagierten nicht nur auf Nachrichten der Eltern, sondern nutzten die Uhren auch dazu, sich während des Unterrichts zum Beispiel mit Freunden auf der Toilette zu verabreden. An ihrer Schule beobachtet sie vor allem ab der 9. Klasse, dass immer mehr Schülerinnen und Schüler die Geräte haben. Andere Schulen aus Schleswig-Holstein berichten, dass auch schon in den unteren Klassen Smartwatches mitgebracht werden.
Eltern schätzen Sicherheit durch Tracking
Die Elternvertreterin der Poul-Due-Jensen-Schule, Sandra Schulze, sieht das Problem der Ablenkung in den unteren Klassen - findet die Smartwatches an sich aber eine gute Sache. Ihr eigenes Kind hat zwar keine Smartwatch, aber eine Tracking-Funktion auf dem Smartphone. "Ich finde das total toll, gerade in der heutigen Zeit mit den ganzen Jugendlichen", sagt Schulze. "Ich weiß, wo er ist, er hat seinen SOS-Knopf und kann da draufdrücken, wenn etwas ist." Auch ihr Kind fühle sich dadurch sicherer.
Medienpädagoge Henning Fietze hat eine klare Meinung: "Wearables, also onlinefähige Geräte fürs Handgelenk, gehören aus unserer Sicht im Grundschulalter einfach noch nicht ans Kinder-Handgelenk." Zwar rät er nicht grundsätzlich von den Geräten ab, schließlich seien sie auch innovativ und Eltern könnten und sollten durchaus mit ihren Kindern über die Technik sprechen - aber dauerhaft ein eigenes Gerät am Arm tragen sollten vor allem jüngere Kinder nicht.
"Kinder müssen sich verstecken können"
Das hat mehrere Gründe. Zum einen sei Tracking in den meisten Fällen in Familien eigentlich nicht notwendig. Viel wichtiger sei es, das Kind durch den Alltag zu begleiten und ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Das könnte unter der Überwachung durch digitale Geräte sogar leiden. "Kinder müssen sich verstecken können", so Fietze – und auch merken, dass Eltern sich Sorgen machen. "Das sind entwicklungspsychologisch alles wichtige Erlebnisse der Eltern-Kind-Bindung. Smartwatches können all dieses freie Erleben und Austesten von Grenzen verhindern und das ist nicht zu begrüßen."
Ansgar Büter-Menke, Dozent für Medienpädagogik an der FH Kiel und Leiter der Stabsstelle Digitale Transformation an der UKSH Akademie, sieht dabei noch ein weiteres Problem: "Das Kind bekommt den Eindruck, es gibt sofort eine Lösung. Ich bin in einer Situation als Kind, in der ich gerade nicht weiterweiß und ich habe da diese Uhr und kann draufklicken, meine Eltern anrufen und die lösen mein Problem. Und das finde ich pädagogisch durchaus kritisch", sagt er.
Experten: Uhren bieten nur Pseudo-Sicherheit
Beide Experten sprechen zudem von einer gefühlten, von einer Pseudo-Sicherheit. Die Smartwatches könnten es nicht ersetzen, sich mit dem Alltag des Kindes auseinanderzusetzen und es zu begleiten, betont Fietze. Die Eltern-Kind-Bindung lasse sich nun einmal nicht auf das Handgelenk übertragen. Büter-Menke sieht vor allem die sogenannte Geofencing-Funktion kritisch. Dabei können Eltern Bereiche definieren, in denen sich das Kind nicht aufhalten darf - die Uhr sendet dann eine Warnung. Die Anbieter spielten hier mit der Angst der Eltern, meint der Medienpädagoge.
Er merkt allerdings auch an, dass es durchaus Ausnahmen geben kann, in denen die Ortungsfunktion sinnvoll sein kann, zum Beispiel bei Kindern, die auf Medikamente angewiesen sind. Die Möglichkeit, die Eltern sofort zu erreichen, könne außerdem Kindern helfen, die durch aktuelle Krisen oder Berichterstattung über Kriege Ängste entwickelt haben. Auch dann sei es aber wichtig, dass die Kinder selbst über die genutzten Funktionen entscheiden können. "Tracking muss mit dem Kind besprochen sein. Wenn das aus elterlicher Sicht begründet, aber ohne Wissen des Kindes gemacht wird, verletzt das die kindliche Privatsphäre."
Tracking verstößt nicht gegen Datenschutz
Rechtlich gesehen ist das Orten von Kindern durch die eigenen Eltern aber grundsätzlich erlaubt. Denn gegen Datenschutzvorgaben verstößt es erst einmal nicht. "Im Prinzip regelt der Datenschutz nicht in die Familie hinein, da gilt die sogenannte Haushaltsausnahme", sagt die Landesdatenschutzbeauftragte Marit Hansen. Das bedeutet, dass die Datenschutzgrundverordnung nicht gilt, wenn personenbezogene Daten nur zur Ausübung persönlicher oder familiärer Tätigkeiten erhoben werden. "Auch gilt das besondere Verhältnis zwischen Erziehungsberechtigten und Kindern", erklärt Hansen weiter. "Das Bestimmen über die eigenen personenbezogenen Daten und das Wahrnehmen der Datenschutzrechte ist in der Regel erst für ältere Kinder oder Jugendliche möglich." Laut Hansen verstößt das Tracking damit auch dann nicht gegen den Datenschutz, wenn die Kinder nicht davon wissen.
Persönlichkeitsrechte gegen Aufsichtspflicht
Zwar gelten auch für Kinder die Grundrechte auf Freiheit und in der UN-Kinderrechtskonvention ist das Recht auf Privatsphäre festgeschrieben - demgegenüber steht aber die Fürsorge- und Aufsichtspflicht der Eltern, wie das Portal "Kinderrechte digital leben"aufgearbeitet hat. Demnach können Eltern selbst entscheiden, wie und mit welchen Mitteln sie ihre Erziehungsaufgaben ausführen, solange das Kindeswohl nicht gefährdet ist. "In dem Fall des Trackings von Kindern könnte einerseits argumentiert werden, dass die Dauerüberwachung einen Schaden darstellt", meint Marit Hansen. Ein Kind könne daher theoretisch seine Eltern verklagen, wenn es nachweisbar geschädigt wurde. "Aus den Grundrechten, dem Kinderrecht auf Beteiligung und aus § 1626 Abs. 2 BGB ergibt sich ein Anspruch des Kindes, zumindest über das Tracking informiert und/oder, je nach Alter und Entwicklungsstand, gefragt zu werden", heißt es auf dem Portal "Kinderrechte digital leben." Das Bundesgesetzbuch schreibt vor, dass Eltern Erziehungsfragen altersgerecht mit ihrem Kind besprechen und dabei "Einvernehmen anstreben". Die endgültige Entscheidung liegt aber bei den Eltern.
Anbieter sammeln Daten und Bewegungsprofile
Allerdings müssen Eltern dafür Sorge tragen, dass die Daten der Kinder nicht öffentlich zugänglich sind – hier gibt es datenschutzrechtliche Bedenken, da Bewegungsprofile und Gesundheitsdaten meist an die Anbieter der Uhren übermittelt werden. Laut Hansen gab es bereits Fälle, in denen die Daten der Kinder nicht ausreichend geschützt waren. Henning Fietze meint: "Wer seinen Kindern ein Smartphone kauft, hat sich bereits gegen Datenschutz entschieden." Dennoch müsse man sich bewusst sein, dass auch eine mit dem Internet verbundene Smartwatch Daten sammle und übertrage.
Abhören über Smartwatches ist verboten
Die Geräte selbst sind in Deutschland nur dann verboten, wenn sie eine sogenannte Abhörfunktion haben, bei denen Eltern also von Ferne das Mikrofon der Uhr aktivieren und so Umgebungsgeräusche und Stimmen von anderen mithören könnten. Das hat die Bundesnetzagentur entschieden.
Schulen müssen Nutzung selbst regeln
Auch an Schulen in Schleswig-Holstein sind Smartwatches nicht generell verboten. Auch an der Poul-Due-Jensen-Schule von Annette Grosse sind die Uhren erlaubt. "Die Schüler haben ja das Recht, ihre Kleidung und Uhren zu tragen, wie sie wollen", sagt sie. "Wir könnten jetzt sagen, die müssen abgelegt werden, aber dann müssen wir das auch wieder kontrollieren." Das sei nicht machbar, zumal einfache Digital- oder Fitnessuhren und internetfähige Smartwatches nicht einfach voneinander zu unterscheiden seien. Die Handynutzung in der Schule ist allerdings verboten - hier hat es in Wahlstedt schon den Fall gegeben, dass Unterrichtssequenzen aufgenommen und ins Netz gestellt wurden. Dagegen ging die Schule vor.
Eltern können sich in der Klasse absprechen
Andere Schulen in Schleswig-Holstein haben bereits in die Schulordnung aufgenommen, dass auch Smartwatches nicht im Unterricht genutzt werden dürfen, weiß Henning Fietze. Er und seine Kolleginnen und Kollegen vom Offenen Kanal raten bei ihren Elternveranstaltungen außerdem dazu, sich in der Klasse abzusprechen und generell festzulegen, dass kein Kind solche Uhren mit in die Schule bringt - so werde auch der soziale Druck vermieden, eine Smartwatch haben zu müssen, um mit Freunden mithalten zu können.