Kriminalität: Schwerer Kampf gegen Familienclans
Es sind die Worte eines deutschen Richters - und sie sind so überraschend wie erschreckend: "Hier stößt der Rechtsstaat an seine Grenzen." Ralph Guise-Rübe ist Präsident des Landgerichts Hildesheim, wo ein spektakulärer Prozess gegen ein Mitglied eines kurdischen Familienclans stattfand.
Noch nie hatte er es erlebt, dass in so einem hohen Maße Zeugen beeinflusst, unter Druck gesetzt und bedroht wurden. Es ging um den Fall von Mohamad O., der Anfang letzten Jahres mit einem Komplizen im niedersächsischen Sarstedt den Liebhaber seiner Frau erschossen hatte - auf offener Straße, an einer roten Ampel.
Die Angst vor Rache lähmt Zeugen
Mehr als 50 Zeugen hatte die Staatsanwaltschaft zum Prozess geladen, einige hatten den Angeklagten in der polizeilichen Vernehmung schwer belastet. Doch vor Gericht will sich plötzlich keiner von ihnen mehr an die Tat erinnern.
Zu groß die Angst vor der Rache des Familienclans. "Sie lassen sich teilweise lieber wegen erwiesener Falschaussage verurteilen als dass sie genau sagen, wie und von wem sie bedroht worden sind", hat der zuständige Oberstaatsanwalt Thomas Pfleiderer beobachtet. Richter Ulrich Pohl verurteilt Mohamad O. trotzdem zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe, sieht dessen Schuld aufgrund der Indizien als erwiesen. Bei der Urteilsverkündung kommt es zu Tumulten, Mitglieder des Familienclans beschimpfen das Gericht, werden handgreiflich, verletzen einen Journalisten. Der Richter steht seitdem unter Polizeischutz, obwohl er seit Anfang des Jahres im Ruhestand ist.
Aus den Großstädten nach Norddeutschland
Familienclans bereiten den Sicherheitsbehörden im Norden zunehmend Kopfzerbrechen. Es ist längst kein Großstadtphänomen mehr, dass sie die organisierte Kriminalität dominieren. "Die Probleme sind in den letzten drei Jahren gravierend gewachsen", sagt Thomas Pfleiderer. "Aus den Großstädten sind die einzelnen Sippen hier nach Norddeutschland gekommen und betätigen sich massiv in der kriminellen Szene. Insbesondere im Kokainhandel haben sie die führende Rolle übernommen."
Immer häufiger begehen Clan-Mitglieder auch Straftaten in Städten wie Osnabrück, Oldenburg und Hannover, selbst in Peine und Stade. Fast immer gehören sie zu den sogenannten M-Kurden, der ethnischen Gruppe der Mhallamiye.
Geschätzt 900 Straftaten pro Jahr - allein in Bremen
Allein 2.500 Mitglieder leben mittlerweile in Bremen; dort sollen sie bis zu 900 Straftaten pro Jahr begehen, also rund drei am Tag. So schätzt es die Polizei. Wie viele tatsächlich auf das Konto der Mhallamiye gehen, lässt sich allerdings nur schwer ermitteln: Denn die offizielle Kriminalstatistik erfasst nur die Nationalität der Verdächtigen und Täter, nicht aber deren Ethnie - und viele "M-Kurden" der zweiten oder dritten Generation sind Deutsche.
Um die registrierten Taten besser zuordnen zu können, hat das Bremer Landeskriminalamt versucht, in mühevoller Kleinarbeit das Familiengeflecht der Mhallamiye zu entwirren. Herausgekommen ist eine meterlange Papierrolle: Mehr als 2.500 Namen stehen darauf - praktisch alle in Bremen lebenden "M-Kurden". Natürlich seien nicht alle per se kriminell, heißt es beim LKA. Doch ihre Beteiligung an kriminellen Machenschaften sei überproportional hoch.
Familien-Clans als Parallelgesellschaft
Experten sprechen längst von einer Art Parallelgesellschaft: "Was innerhalb der Familien abläuft, erfahren wir nur ganz selten, weil die Familien ganz abgeschottet leben. Sie regeln Straftaten innerhalb der Familie oder mit anderen Sippen selbst. Das geht bis hin zur Blutrache, dass sie die Leute liquidieren, die die Familienehre beschmutzt haben", erklärt Oberstaatsanwalt Pfleiderer.
Das Landeskriminalamt Niedersachsen attestiert den Mhallamiye eine hohe Gewaltbereitschaft. Immer wieder komme es auch zu Angriffen gegen Polizisten.
Angriff gegen Polizisten
Zum Beispiel in Visselhövede: Im Sommer 2011 wollen zwei Beamte eine Gruppe Jugendlicher auf dem Marktplatz der Kleinstadt kontrollieren. Doch statt seine Papiere vorzuzeigen, greift einer der jungen Männer einen der Polizisten an, schlägt gemeinsam mit seinem Bruder auf den Polizisten ein.
Ob einer der beiden auch die Dienstwaffe des Beamten aus dem Holster zog und ihm an den Kopf hielt, wie die Kollegin des Betroffenen gesehen haben will, konnte vor Gericht nicht geklärt werden: Die Anwälte beider Seiten einigten sich Anfang April diesen Jahres mit der Staatsanwaltschaft in einem Deal auf milde Strafen gegen Schuldeingeständnisse: Eine Woche Jugendarrest und 1.700 Euro Schmerzensgeld. Eine Interview-Zusage des angegriffenen Polizisten zog seine Dienststelle mit Verweis auf die unkalkulierbare Reaktion der Familie zurück.
Die Folgen solcher Aggressivität: Opfer erstatten nicht immer Anzeige, Täter werden selten verurteilt und die Strafverfolgung stößt an ihre Grenzen. In manchen Fällen scheint der Rechtsstaat hilflos. Einige Experten befürchten sogar, dass die Bekämpfung der gewachsenen Strukturen nur noch in Teilbereichen möglich sein wird.