Sendedatum: 04.06.2013 21:15 Uhr

Unter Lehrern

von Anja Reschke & Birgit Wärnke
Anja Reschke in einer Hamburger Stadtteilschule. © NDR
Sind Lehrer wirklich so überlastet, oder jammern sie nur auf hohem Niveau? Anja Reschke als Co-Lehrerin.

Ding, dang, dong. Seit mehr als 20 Jahren habe ich diese Tonfolge nicht mehr gehört. Aber für  Erinnerungen bleibt jetzt keine Zeit. Denn in diesem Moment sagt mir dieser Gong nur eines: Ich bin zu spät. Und das an meinem ersten Schultag. Für eine Fernsehreportage werde ich den Unterricht in einigen Klassen begleiten und teilweise als Co-Lehrerin unterrichten. Immer wieder klagen Lehrer, wie überlastet sie seien. Sind Lehrer nicht die, die zwölf Wochen im Jahr Ferien haben, nachmittags frei und trotzdem immer jammern? Ich möchte selbst herausfinden, ob dieser Eindruck eigentlich stimmt.

VIDEO: Unter Lehrern (30 Min)

"Besonderer Stadtteil" heißt heute ein Brennpunkt

Anja Reschke in einer Hamburger Stadtteilschule. © NDR
22 Kinder aus etwa zehn Nationen - Normalzustand in "besonderen Stadtteilen".

Hamburg-Wilhelmsburg ist ein "besonderer Stadtteil". So nennt die Politik das. Früher hieß es Brennpunkt. Ich hetze zum Klassenraum der 6b. Meinem neuen Arbeitsplatz für die nächsten Wochen. Gestern schon habe ich gemeinsam mit der Klassenlehrerin Frau Zimmermann eine Stunde vorbereitet. Deutsch, bestimmte und unbestimmte Artikel, eigentlich zu schaffen. Trotzdem bin ich nervös. 22 Kinder sind in der Klasse aus etwa zehn Nationen. Geboren wurden die meisten in Deutschland. Aber ihre Eltern stammen aus Pakistan, der Türkei, Ghana, Afghanistan, Russland. Sechs dieser Schüler sind außerdem Inklusionskinder. Sechs! Vor vier Jahren hat Deutschland die UN-Konvention über Inklusion unterschrieben. Dazu gehört auch, dass behinderte Kinder nicht länger ausgegrenzt werden sollen und deshalb auch an Regelschulen unterrichtet werden. In Hamburg wird das seit 2010 umgesetzt. Das, was Förderschulen mit speziell ausgebildeten Lehrern kaum geschafft haben, nämlich Kinder mit Förderbedarf zu einem Schulabschluss zu bringen, soll nun hier, an einer Schule in einem "besonderen Stadtteil", gelingen.

So geht es nicht weiter

Im Frühjahr hat Schulleiter Kay Stöck gemeinsam mit anderen Direktoren der Stadtteilschulen in Wilhelmsburg einen Brief an den Hamburger Schulsenator geschrieben. Der Tenor: So gehe es nicht weiter. Viele Schüler würden bis zu zwei Jahre im Unterrichtsstoff zurückhängen. Und dann gebe es ja auch noch die gestiegenen Anforderungen der Inklusion. Dafür wurden den Schulen zwar zusätzliche Lehrerstellen zugewiesen, aber das reicht bei Weitem nicht aus. Das habe ich auch gemerkt. Man schafft es ja schon zu zweit kaum, den Kindern gerecht zu werden. Und bislang gibt es keine Ressourcen, den Unterricht solcher Klassen überall doppelt zu besetzen. In Klasse 6b geht es jetzt weiter mit "Mibele", mit Begleitung lernen. Für Menschen wie mich, die in den Siebzigern und Achtzigern in die Schule gegangen sind, eine zunächst verwirrende Form des Unterrichts. Die Schüler sollen selbstständig Arbeitsblätter und Aufgaben bearbeiten, die sie in den verschiedenen Stunden bekommen haben: Deutsch, Mathe, Englisch. Wir als Lehrer unterstützen nur.

Erziehung? Sache der Schule

Anja Reschke in einer Hamburger Stadtteilschule. © NDR
Ob Unterricht funktioniert, hängt von unglaublich vielen Faktoren ab: Ist es Montag oder Freitag? Erste oder letzte Stunde?

Pause heißt auf jeden Fall nicht Pause von Schülern. Langsam ahne ich, was sie hier meinen mit Überlastung. Neben dem Lehrerzimmer liegt das Büro von Schulleiter Kay Stock. Man sieht ihn oft durch seine Schule gehen. Hier streicht er einem Kind über den Kopf, dort ermahnt er ein anderes, den Müll aufzuheben, er kennt fast alle Schüler beim Namen. "Das Wichtigste, wenn man hier arbeitet, das Allerallerwichtigste ist, dass man Kinder mag", erklärt er mir.

Die Schule sei kein sozialer Brennpunkt, wie man ihn sich vorstelle, mit Gewalt oder Drogen habe man hier keine Probleme. Es seien nur eben viele Kinder hier, denen die Eltern nicht das mitgegeben hätten, was man sich wünschen würde. Kein Vorlesen, keinen Zoo- oder Museumsbesuch, keinen Musik- oder Turnunterricht, keine Gespräche über Gott und die Welt und das Leben. "Das müssen wir ihnen hier mitgeben." Erziehung, das sei für einige Eltern eben Sache der Schule.

Ob Unterricht funktioniert, hängt von unglaublich vielen Faktoren ab: Ist es Montag oder Freitag? Erste oder letzte Stunde? Ist die Klasse schon lange zusammen oder frisch durcheinandergewürfelt? Ist es ein guter oder ein schlechter Lehrer? Zwar werden sie alle paar Jahre vom Schulleiter oder Schulrat begutachtet, aber diese Stunden spiegeln selten den Alltag wider. So machen sie immer weiter ihren Stiefel. Das einzige Feedback, das man als Lehrer bekommt, ist das der Kinder. In Form von Unruhe, schlechten Noten, frechen Bemerkungen, Respektlosigkeit. Und wie reagiert man darauf? Man erhöht den Druck, verteilt weitere Strafaufgaben. Bis man eines Tages nicht mehr kann.

Quelle: Die Zeit

Dieses Thema im Programm:

Panorama - die Reporter | 04.06.2013 | 21:15 Uhr

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