Die Hamburg-Vermesser
Hamburgs geografische Mitte liegt in der Hafencity. Michael Büge von dem Projekt "Open Street Map" (deutsch: offene Straßenkarte, OSM) drückt es anders aus: "Sie liegt auf dem 53. Breitengrad und 54 Minuten und dem 10. Längengrad." Er hat sich die Koordinaten sogar auf sein T-Shirt drucken lassen, darunter den Spruch "free the map". Das Shirt zieht er gerne an, wenn er - ausgerüstet mit einem GPS-Navigationsgerät - Hamburg neu kartografiert. Der 48-Jährige gehört zu den weltweit rund 30.000 Freiwilligen, die für Open Street Map eine freie, im Internet kostenlos verfügbare Weltkarte erstellen. Das Projekt macht mittlerweile Google Maps Konkurrenz.
Wie eine Karte entsteht
Rund 80 Prozent von Hamburg sind bereits erfasst. Im Stadtteil Bahrenfeld gibt es noch kleine weiße Flecken, die möchte Büge tilgen. Er trifft sich an der S-Bahnstation Bahrenfeld mit Sven Anders und Stephan Schildberg, auch sie betätigen sich in ihrer Freizeit als Hobby-Vermesser. Das mitgebrachte GPS-Gerät zeigt die aktuelle Position an: N 53.56° E 09.9103° lauten die Koordinaten. Dann laufen die drei durch Bahrenfeld, das Gerät zeichnet die Strecke in sogenannten Tracks automatisch auf. Wegmarken wie Briefkästen oder Telefonzellen werden vermerkt, mit der Kamera fotografiert Büge auch Straßenschilder. Am Ende der Tour wird er die GPS-Daten und die Informationen über die Wegmarken auf seinen Rechner laden und in einem speziellen Programm zusammenführen. Verfeinert mit weiteren Angaben über die abgelaufene Strecke lädt er die Daten schließlich in die OSM-Datenbank. Die zentralen Server stehen in Großbritannien im "University College of London". Wieder ist das Vorhaben, die Welt neu zu vermessen, ein Stückchen vorangekommen. In komprimierter Form ist die Datei, die die freien Geodaten der Erde enthält, mehr als vier Gigabyte groß. Und sie wächst weiter.
Geeignet auch für Fußgänger und Radfahrer
"Der Detailreichtum zeichnet unser Kartenmaterial aus", erklärt Anders. Er war der erste "Mapper" in Hamburg und stieß zu dem Projekt, weil er sich sein Leben lang über ungenaue Karten geärgert hat. "Als Fußgänger oder Fahrradfahrer war ich mit der Qualität kommerzieller Karten nie zufrieden", sagt der Software-Entwickler. In der Nähe seines Wohnorts im Süden Hamburgs hat der 35-Jährige beispielsweise erstmalig Waldwege kartografiert. Auch auf der Tour durch Bahrenfeld werden kleinste Fußwege abgelaufen oder die Information vermerkt, dass eine Einbahnstraße für Radfahrer in beide Richtungen befahrbar ist. "Open Street Map ist ein Projekt für Pedanten", bekennt Anders. Er schätzt, dass die Hamburger Gruppe rund 100 Hobby-Kartografierer umfasst.
Die Karte für alle
Stephan Schildberg, auch er einer der ersten Hamburg-Vermesser, schätzt an OSM, dass das Kartenmaterial jedermann frei zur Verfügung steht. Vor einigen Jahren benötigte er für ein privates Projekt einen Straßenplan. "15.000 Euro hat der Verlag damals für die Verwendung verlangt", empört er sich. OSM-Karten stehen dagegen unter einer freien Creative-Commons-Lizenz und dürfen von jedermann kostenlos genutzt werden - inklusive der geografischen Rohdaten. So konnte beispielsweise ein Mapper in den Plan des Berliner Zoologischen Gartens nicht nur alle Wege einzeichnen, sondern auch ergänzen, wo Elefanten, Eisbären oder Pinguine ihr Gehege haben. Ein klarer Vorteil zu Google Maps: Dieser Online-Kartendienst darf zwar zu bestimmten Zwecken auch kostenlos genutzt werden, doch auf die Geodaten selbst hat allein der Konzern Zugriff.
Parallelen zur Wikipedia
OSM funktioniert ähnlich wie die freie Online-Enzyklopädie Wikipedia: Wie bei den Wissenssammlern ist jeder eingeladen mitzumachen, man koordiniert sich lose über das Internet. Allerdings ist die Einstiegshürde bei den Mappern höher. Brauchbare GPS-Geräte gibt es zwar mittlerweile schon ab 100 Euro, doch Anfänger benötigen oft Hilfe, um ihre gesammelten Daten in eine Karte zu verwandeln. Einmal im Monat veranstalten die Hamburger Mapper darum einen Stammtisch und tauschen sich aus.
Was treibt die Hobby-Vermesser an?
Wie Wikipedia gedeiht OSM allein durch das Engagement seiner Community. Was aber motiviert die neuen Erdvermesser? "Ich lebe schon lange in Hamburg, durch das Kartografieren lerne ich neue Gegenden kennen. Das ist interessant und macht Spaß", sagt Michael Büge, der, wenn er nicht mit dem GPS-Gerät durch die Stadt zieht, als Versandleiter arbeitet. "Außerdem hält das Laufen schlank", grinst er. Besonders stolz ist er auf die Qualität des Kartenmaterials. GPS-Geräte orten zwar nur auf etwa fünf Meter genau, doch bei Stadtplänen kommt es auf die topologisch richtige Erfassung an. Der IT-Dienst "Chip Online" schrieb jüngst, dass das Projekt es "regional locker mit der Konkurrenz aufnehmen könne". Größere Städte sind tatsächlich gut erfasst. Doch in dünn besiedelten Gegenden - etwa in Mecklenburg-Vorpommern - sind manchmal nur Hauptverkehrsstraßen und Ortsmarkierungen verzeichnet. Gemessen daran, dass OSM erst im Jahre 2004 von dem Briten Steve Coast ins Leben gerufen wurde, beeindruckt das bisher zusammengetragene Kartenmaterial dennoch.
Während Wikipedia immer mal wieder wegen fehlerhafter Artikel und Online-Vandalismus in die Schlagzeilen gerät, blieb OSM von derlei bisher verschont. Die Hobby-Kartografen machen sich darüber auch keine Sorgen. Auch Wikipedia findet schließlich immer wieder Mechanismen, um die Qualität der Artikel zu sichern. Das Bemerkenswerte dieser Open-Source-Initiativen ist, dass Tausende ehrenamtliche Enthusiasten überhaupt in der Lage sind, diese gigantischen Projekte zu betreuen. Manchmal entstehen dabei Angebote, die die Profi-Konkurrenz nicht vorweisen kann: In Hamburg arbeitet ein Mapper beispielsweise daran, alle Eisdielen der Stadt zu erfassen.