Stand: 07.04.2014 18:24 Uhr

Schläge in der Kinderpsychiatrie

von Nadja Kerschkewicz, Anne Kynast & Martin Suckow

Wolfgang Petersen kann seine Zeit in der Kinderpsychiatrie Schleswig nicht vergessen. Ein Ort mit eigenen Regeln. Schlagen, Einsperren - all das war erlaubt. Jahrelang war Petersen der Gewalt schutzlos ausgeliefert. Schläge von Pflegern waren an der Tagesordnung. Sie pressten ihn in eine Zwangsjacke, drückten ihn unter Wasser. Wenn sich Petersen beschwerte, hagelte es weitere Strafen. Und es hieß: "Euch Idioten glaubt ja eh keiner."

VIDEO: Schläge in der Kinderpsychiatrie (10 Min)

Ein Alltag voller Strafen und Gewalt

Nach Recherchen des WDR erlebten in den 1950er- und 60er-Jahren Tausende Kinder und Jugendliche wie Wolfgang Petersen in Psychiatrien einen Alltag voller Strafen und Gewalt. Jahrzehntelang wurde in deutschen Kinderpsychiatrien wie jener in Schleswig gegen Grundrechte verstoßen. Das Recht auf Menschenwürde oder körperliche Unversehrtheit: eingeschränkt, zum Zweck der Erziehung. Erst 1972 hat das Bundesverfassungsgericht dem ein Ende gesetzt. Dem WDR liegen auch Berichte über Misshandlungen in weiteren norddeutschen Psychiatrien vor, darunter in Bremen, Heiligenhafen und Blankenburg.

Den Opfern wurde nicht geglaubt

Prof. Peter Schruth, Sozialwissenschaftler an der Hochschule Magdeburg-Stendal. © WDR
Der Sozialwissenschaftler Prof. Peter Schruth sagt, dass den Opfern vielfach nicht geglaubt worden sei.

Professor Peter Schruth, Sozialwissenschaftler an der Hochschule Magdeburg-Stendal und Ombudsmann der ehemaligen Heimkinder in Deutschland, schätzt, dass bis in die 70er-Jahre mindestens 15.000 Kinder in deutsche Psychiatrien abgeschoben wurden - teilweise nur deshalb, weil sie nicht der gesellschaftlichen Norm entsprachen. Die Zustände blieben auch deshalb lange unentdeckt, weil die Kinder selten Kontakt mit ihren Familien hatten. Und wenn es Kontakt nach draußen gab, wurde den Schilderungen nicht geglaubt. Heute sind viele Patientenakten und damit wichtige Beweismittel vernichtet.

Für Psychiatriekinder gibt es - im Gegensatz zu den ehemaligen Heimkindern - noch immer keine finanzielle Hilfeleistung. Der Politik ist das auch bekannt. Beim Runden Tisch Heimerziehung, der im Februar 2009 seine Arbeit aufnahm, wurden die Opfer der Kinderpsychiatrie das erste Mal Thema. Am Ende wurden sie aber vom Fonds ausgenommen. Der Bundestag stellt 2011 fest: "Leid und Unrecht hätten auch Kinder und Jugendliche erlitten, die in Einrichtungen der Behindertenhilfe sowie Einrichtungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie untergebracht worden seien. In Abstimmung mit den betroffenen Ländern sollten Regelungen gefunden werden.“

Finanzieller Streit über Entschädigungen

Der heute geschlossene Trakt der Kinder- und Jugendpsychiatrie Hesterberg in Schleswig. © WDR
Der ehemalige Trakt der Kinder- und Jugendpsychiatrie Hesterberg in Schleswig ist heute geschlossen.

Die Staatssekretärin im Sozialministerium Schleswig-Holsteins, Anette Langner, sagte dem WDR: "Wir sind jetzt an einem Punkt, wo wir die Vorkommnisse der Vergangenheit aufarbeiten und einer historischen Bewertung zuführen. Wir nehmen das Thema ernst und erkennen die Schuld an. Man kann das nicht wiedergutmachen, aber die Menschen finanziell entschädigen."

Nach Informationen des WDR ist hinter den Kulissen jedoch zwischen Bund und Ländern ein Streit über die Finanzierung eines Hilfsfonds ausgebrochen. Bis heute beraten die Länder, wie finanzielle Hilfen überhaupt aussehen sollen. Sie wollen erst ermitteln, wie viele Betroffene es gibt.

Dieses Thema im Programm:

Panorama 3 | 08.04.2014 | 21:15 Uhr

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