Messerattacke in Stralsund: Warum schwiegen die Behörden?

Stand: 21.06.2024 09:50 Uhr

Ein Deutscher sticht Ende Mai einen ausländischen Staatsbürger nieder und soll vor Zeugen gesagt haben, er hätte das "für Deutschland gemacht". Polizei und Staatsanwaltschaft Stralsund äußern sich zunächst nicht zu dem Fall.

von Frank Breuner

Wir treffen uns mit Peter G. (Name redaktionell geändert) in einem Büro in der Stralsunder Altstadt. Er möchte anonym bleiben, aber trotzdem reden, denn die Geschehnisse vom 26. Mai gehen ihm nicht mehr aus dem Kopf. "Ich leide seitdem unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. Ich habe schon viel in meinem Leben gesehen, aber so etwas noch nicht." Und er versteht nicht, warum es keine Polizeimeldung, keinen Zeitungsartikel oder irgendeine andere Veröffentlichung zu dem gibt, was er als Augenzeuge miterlebt hat.

Messerattacke auf der Tanzfläche

Es passierte an einem Sonntagmorgen in einer Bar in der Altstadt. Kurz nach zwei Uhr ist die Stimmung ausgelassen, die Tanzfläche voll von Menschen, auch Peter G. tanzt. Da fällt ihm ein Mann in einem stahlblauen Pullover auf, der an ihm vorbei Richtung Ausgang läuft. Vor ihm steht ein anderer Mann, den G. als "Araber" beschreibt, der daraufhin seinen Pullover hochzieht und sagt: "Der hat zugestochen". Die Wunde auf der Brust habe schrecklich ausgesehen und fing an zu bluten, so beschreibt es unser Augenzeuge. Nach Informationen des NDR hat das Opfer nur überlebt, weil die Messerklinge von einer Rippe abprallte. Zwei andere Bargäste, die den Vorfall beobachtet hatten, verfolgten den mutmaßlichen Täter im blauen Pulli und konnten ihn schließlich fassen und festhalten. Ein weiterer Gast hatte den Notruf gewählt, Polizei und Notarzt seien schnell vor Ort gewesen.

Tatverdächtiger: "Das habe ich für Deutschland gemacht"

Peter G. erzählt, dass er nach draußen vor die Tür der Bar gegangen sei und gesehen habe, wie der mutmaßliche Täter von der Polizei fixiert wurde. Dabei habe er deutlich gehört, wie der Mann "Das habe ich für Deutschland gemacht" ausgerufen habe. Die Polizisten müssten das auf jeden Fall auch mitbekommen haben, meint G. Ein anderer Barbesucher habe die Beamten auch noch einmal aufgefordert, diesen Satz zu protokollieren. Bei der Durchsuchung des Tatverdächtigen sei ein Messer gefunden worden, ein Klappmesser mit Holzgriff, "größer als ein Brotmesser", so schätzt Peter G. es ein. Dann seien Polizisten noch in die Bar gegangen, hätten sich kurz die Blutlache auf der Tanzfläche zeigen lassen. Das verletzte Opfer sei im Rettungswagen abtransportiert worden und danach sei "die ganze Truppe abgedampft", so Peter G. Die Party in der Bar lief einfach weiter. Irgendwann hätten Mitarbeiter das Blut auf dem Boden weggewischt.

Staatsanwaltschaft bestätigt Vorfall

Ein Gebäude von außen mit Fahnenmasten davor. © NDR
Das Gebäude der Staatsanwaltschaft in Stralsund

Nach einem ersten Hinweis zu dem Vorfall fragt der NDR am 5. Juni, also zehn Tage nach der Tat, zum ersten Mal bei der Staatsanwaltschaft Stralsund nach. Bis dahin hat es weder eine Polizeimeldung, noch eine Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft gegeben. Der Pressesprecher der Behörde, Oberstaatsanwalt Martin Cloppenburg, bestätigt den Vorfall. Das bisherige Schweigen der Behörde habe ermittlungstaktische Gründe, soviel aber wird uns mitgeteilt: Ein 64-jähriger Mann sei dringend verdächtig, in erheblich alkoholisiertem Zustand einen Gast der Bar mit italienischer Staatsangehörigkeit mit einem Messer angegriffen zu haben. Es sei davon auszugehen, dass der Beschuldigte aus niedrigen Beweggründen mit jedenfalls bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt habe. Von einem Ausspruch "Für Deutschland" hätten weder das Opfer, noch Augenzeugen berichtet, so der Oberstaatsanwalt.

Augenzeuge: "Für mich war das ein Mordversuch"

Einen Tag später, am 6. Juni, liefert die Staatsanwaltschaft weitere Informationen zu dem Fall. Eine Wohnungsdurchsuchung bei dem Tatverdächtigen habe keine Hinweise auf eine ausländerfeindliche Gesinnung erbracht. Man gehe auch nicht mehr von einem Tötungsvorsatz aus, da neu ausgewertete Zeugenaussagen ergeben hätten, dass der Beschuldigte nicht mehrfach zugestochen habe. Die Behörde geht deshalb nur noch vom Verdacht einer gefährlichen Körperverletzung aus. Inzwischen sei die Entlassung des mutmaßlichen Täters aus der Haft veranlasst worden. Peter G. kann das Vorgehen der Staatsanwaltschaft nicht verstehen: "Für mich war das versuchter Mord. Wenn ich mit einem Messer irgendwo hingehe, dann hab ich einen Vorsatz und wenn ich da auf einen zustürze und zusteche, dann ist das für mich versuchter Mord". Peter G. findet, dass der Fall von den Behörden "verniedlicht" wird.

Hat die Polizei bei Ermittlungen Fehler gemacht?

Ein älterer Mann in einem gestreiften Hemd sitzt an einem Tisch. © NDR
Siegfried Stang, Kriminaldirektor a.D. Polizei Neubrandenburg

G. berichtet auch, dass die Behörden erst gut fünfzehn Stunden nach dem Vorfall eine Tatortbegehung durchführten, um Spuren zu sichern - also nachdem die Blutspuren von Barmitarbeitern schon längst beseitigt worden waren. Ob das die übliche Vorgehensweise bei einem Fall ist, der zumindest anfänglich als Tötungsdelikt eingestuft worden ist, wollen wir von einem Experten wissen: Siegfried Stang war viele Jahre lang Leiter der Polizeidienststelle Neubrandenburg und ist inzwischen im Ruhestand. Nach den Aussagen von Peter G. geht er davon aus, dass in diesem Fall schwere Ermittlungsfehler begangen worden sein könnten. Die Spurensicherung hätte sofort nach der Tat vorgenommen werden müssen, der Tatort sei schon längst "kalt" gewesen, als das Stunden später nachgeholt wurde, meint der Kriminaldirektor a.D.

Experte: Staatsanwaltschaft mauert bei Informationen

Die Antworten der Staatsanwaltschaft, die wir ihm zeigen, seien ausweichend, Stang hat den Eindruck, dass da "gemauert" werden soll. Er könne auch nicht nachvollziehen, warum die Tat plötzlich nur noch als gefährliche Körperverletzung eingestuft wird. "Der Täter hat zugestochen, gedacht 'das reicht, der ist hin' und ist dann getürmt. In seinen Augen muss die Tat also schon vollendet gewesen sein." Nach unserem Gespräch mit Peter G. fragen wir erneut nach, ob die Polizei etwas über den Ausruf "Das habe ich für Deutschland gemacht" wisse. Oberstaatsanwalt Cloppenburg schreibt dazu am 14. Juni: Ob der "Spruch" protokolliert wurde, "kann ich ihnen erst nach Vorlage der derzeit noch zu Ermittlungszwecken versandten Ermittlungsakten gegebenenfalls mitteilen". Ein Interview zu dem Fall könne vor Abschluss des Ermittlungsverfahrens nicht gegeben werden.

Augenzeuge fordert Klartext von Behörde

Ex-Polizist Stang findet das merkwürdig: "Es ist unerfindlich, warum die gesamte Ermittlungsakte verschickt werden musste. An wen?" Bei Ermittlungsersuchen reiche oft auch eine zusammenfassende Darstellung oder Kopien an die andere Dienststelle. Sein Eindruck ist, dass die Staatsanwaltschaft schlicht dazu nichts sagen und Zeit gewinnen wolle. Denn eventuell hätte bei dem Fall sogar der Staatsschutz eingeschaltet werden müssen, vermutet Stang. Wir fragen auch beim Innenministerium in Schwerin an, ob es zu Ermittlungsfehlern gekommen ist. Die Pressesprecherin antwortet:

"Sowohl die vor Ort eingesetzten Polizeivollzugsbeamten des Polizeihauptreviers Stralsund als auch der Kriminalpolizei haben alle notwendigen und unaufschiebbaren polizeilichen Maßnahmen getroffen, um den Sachverhalt zu erforschen."

Das gelte auch im Zusammenhang mit der Tatortarbeit und Beweissicherung. Ansonsten verweist das Ministerium an die Staatsanwaltschaft.

Menschen tanzen  in buntem Licht © photocase Foto: neo.n
AUDIO: Messerattacke in Stralsund: Warum schwiegen die Behörden? (4 Min)

Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Radio MV | Nachrichten aus Mecklenburg-Vorpommern | 21.06.2024 | 19:30 Uhr

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Landkreis Vorpommern-Rügen

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