Herbert Renz-Polster lächelt in die Kamera. © Marco Mehl Foto: Marco Mehl

Prägt Erziehung die Gesinnung? Kinderarzt Renz-Polster im Gespräch

Stand: 25.04.2024 14:50 Uhr

Der Autor und Kinderarzt Herbert Renz-Polster beschreibt in seinem Buch "Erziehung prägt Gesinnung. Wie der weltweite Rechtsruck entstehen konnte - und wie wir ihn aufhalten können", inwieweit die Weichen für unsere politische Einstellung bereits in der Kindheit gestellt werden.

Renz-Polster ist davon überzeugt, dass wir in der Kindheit erfahren, ob es im menschlichen Miteinander um Macht und Überlegenheit geht, oder aber um Vertrauen und Zusammenarbeit. In der Kindheit bilden wir das soziale Vermögen aus, mit dem wir der Welt und ihren Krisen begegnen, so Renz-Polster. Unsere politischen Überzeugungen seien nicht von unseren Kindheitserfahrungen zu trennen.

Herr Renz-Polster, was sagt unser Umgang mit Kindern über unsere Gesellschaft aus?   

Herbert Renz-Polster: Ich sehe unseren Umgang mit den Kindern eigentlich eher in einem positiven Licht. Wir haben über die letzten zwei, drei Generationen durchaus Land gewonnen, haben auch sehr vielfältige Elternschaftskulturen bei uns in Deutschland. Und das zeigt eigentlich mit dem Blick auf die Gesellschaft, dass wir heute insgesamt liberaler sind und der Großtrend unserer Zeit ist tatsächlich eher Liberalismus als Autoritarismus.

Sie schreiben in Ihrem Buch "Erziehung prägt Gesinnung", dass man, wenn man rechte Tendenzen verstehen will, auf die Kindheiten der politischen Akteure und ihrer Anhänger blicken muss. Welche Art von Kindheitserfahrungen setzen Sie in Zusammenhang mit der Empfänglichkeit für autoritäre Positionen? Und wie lässt sich dies erklären?   

Renz-Polster: Schauen wir uns die Agenda der Kindheit einmal an. Da ist das, was die Kinder jeden Tag fragen. Da geht es um Sicherheit: Bin ich sicher? Es geht um Wert und Anerkennung: Bin ich anerkannt? Es geht um Zugehörigkeit: Gehöre ich hier dazu? Aus den Antworten, die wir ihnen auf diese Fragen geben, bilden die Kinder so etwas wie eine innere Matrix, eine innere Heimat. Auf der stehen wir eigentlich unser Leben lang. Natürlich verändern wir diese Matrix auch die ganze Zeit, aber das ist eigentlich unsere Grundausstattung, unser inneres Kapital, mit dem wir durchs Leben gehen und natürlich auch in die Stürme des Lebens hinein. Wenn du unsicher stehst, wenn du wertlos stehst, wenn du ohne Heimat stehst, suchst du später nach Sicherheit in äußeren Kategorien. Dann ist auf einmal eine Fahne, unter die du dich flüchten kannst, für dich was ganz Tolles. Das ist der Zusammenhang.

Wie erklären Sie den in den letzten Jahren zu beobachtenden weltweiten Rechtsruck?   

Renz-Polster: Das ist die Mutter aller Fragen und sie beginnt eigentlich mit einer weiteren Frage: Erleben wir tatsächlich einen Rechtsruck? Natürlich erleben wir einen Rechtsruck, insofern, als mehr Menschen sich jetzt hingezogen fühlen zu radikalen, autoritären Parteien. Wenn wir aber betrachten, welche inneren Haltungen Menschen haben, also welche Antworten sie geben auf Fragen nach der eigenen Überlegenheit, als Volk, als Rasse oder als Geschlecht, oder welche Antworten sie geben auf Fragen nach Inklusion, da kann man eigentlich sagen, dass wir heute in einer weniger autoritären Gesellschaft leben.

Das wird manchen vielleicht klar, wenn sie mal zurückdenken. Ich bin ein Kind der 60er-Jahre. Wie wir mit den damaligen Gastarbeitern umgegangen sind - da war Integration oder Berechtigung überhaupt keine Frage. Selbst wenn man jetzt Zitate liest, von Herrn Kohl oder Stoiber oder Franz Josef Strauß, da platzen einem die Zehennägel hoch. Das wäre heute alles gar nicht möglich. Insofern muss man unterscheiden zwischen autoritärer Reaktion "Es zieht mich jetzt momentan zur Wahl von politischen, politisch rechts stehenden Parteien" und den inneren Haltungen. 

Studien legen nahe, dass Bindungsverhalten von Eltern an ihre Kinder weitergegeben wird und sich Muster über die Generationen nur sehr langsam ändern. Wie kann das durchbrochen werden?   

Renz-Polster: Wie kann dieser Fluch der Generationen sozusagen durchbrochen werden? Er kann durchbrochen werden, indem wir betrachten, was wirklich Sicherheit ausbildet bei uns Menschen, was uns eine innere Heimat gibt. Das ist eine würdige Behandlung als Kinder, dass wir erfahren: Ich kann vertrauen, ich bin hier sicher, ich komme nicht in Not. Ich lebe in einer Welt, in der ich nicht die ganze Zeit gestresst bin und kämpfen muss. Unsere Kindheitserfahrungen machen wir in einem sichernden Bindungssystem mit Menschen, die uns wohlwollend gegenübertreten und uns eine gute Orientierung geben - das Meisterwerk einer guten menschlichen Erziehung. 

Welchen Beitrag können Ihre Erkenntnisse über den Zusammenhang von Erziehung und Gesinnung bei der Klärung der Frage leisten, wie sich in der Weimarer Republik der Nationalsozialismus durchsetzen konnte?   

Renz-Polster: Man kann tatsächlich nur verstehen, dass sich so eine porentief menschenverachtende Ideologie damals in der weiten Breite, wirklich im Mainstream durchsetzen konnte, wenn man die Kindheiten damals betrachtet. Kindheiten, in denen die Kinder beständig überfordert waren und in ihrem Bindungsverlangen auch traumatisiert wurden. Wenn man die Berichte von damals liest, wie Kinder groß geworden sind, ohne festen Anker in einem stabilen, vertrauten Bildungsnetz, kann man verstehen, was dann damals abgelaufen ist.  

Inwiefern wirkt die Nazi-Propaganda im Bereich der Erziehung heute noch nach, beispielsweise die von Johanna Haarer in ihrem NS-Beststeller "Die Deutsche Mutter und ihr erstes Kind" vermittelten Vorstellungen?   

Renz-Polster: Vieles wird bei uns festgemacht an der Erziehungsideologie von Johanna Haarer. Ich glaube aber, dass sie als Figur zum Teil überschätzt wird - aus zwei Gründen: Zum einen war die wirklich schwer autoritäre Erziehung damals der Mainstream in der ganzen westlichen Welt. Das war in den USA genauso wie in den europäischen Ländern. Da war Deutschland keine Ausnahme. Auch muss man sagen, dass Johanna Haarer sicher auf noch tiefere Wurzeln zurückgegriffen hat. Wenn man mal liest, was es im Kaiserreich Anfang des Jahrhunderts oder im ausgehenden vorletzten Jahrhundert an Erziehungspraktiken gab, da muss man sagen, ist Johanna Haarer zum Teil schon ein bisschen abgesoftet. Der eigentliche Urgrund der autoritären Behandlung in unserem Kulturkreis oder in unserer Kulturtradition, der liegt früher.

Das Gespräch führte Annika Feldmann.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | 24.04.2024 | 16:00 Uhr

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