Stasi-Opfer: Der lange Weg zur Anerkennung
Es ist der 8. April 1962. Die Berliner Mauer steht gerade ein paar Monate. Gernot Preuß aus Verden (Aller) knattert mit dem Motorroller auf den Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße zu. Dicht hinter ihm ein Auto. Die Insassen: Mitarbeiter der Stasi. Noch 500 Meter bis zur Grenze. Das Auto überholt und schneidet ihm den Weg ab. Es ist der Tag, an dem der Westdeutsche Gernot Preuß in Ost-Berlin verhaftet wird.
Preuß hatte über einen Freund Kontakt zu Ost-Berlinern, die in den Westen wollten. Der damalige Jurastudent wollte helfen, war empört über die Abschottungspolitik der SED, die Repressalien gegenüber Andersdenkenden und über den Mauerbau.
Die Angst, ohne Urteil lebenslang zu verschwinden
Der Plan von Preuß' Fluchthilfegruppe: die befreundeten Ost-Berliner nachts durch ein vorher unauffällig durchtrenntes Stück Stacheldraht an der Grenze zu schleusen. Dann sollte es durch einen Fluchttunnel in den Westen gehen. Doch sein Vorhaben wurde Fluchthelfer Preuß zum Verhängnis. Denn bereits Wochen zuvor war die Fluchthelfer-Gruppe unbemerkt von der Stasi unterwandert worden. Nun fand sich Preuß plötzlich im Stasi-Knast wieder. Der Vorwurf: Anstiftung zur Republikflucht. Sein Verteidiger macht ihm klar: Bereits vor der Anklage steht das Urteil fest, zwei Jahre und drei Monate Haft. Genau so kommt es.
Obwohl Preuß in der Überzeugung, das Richtige getan zu haben, ein Geständnis ablegt, lässt sich die Stasi lange, quälende Verhöhre trotzdem nicht nehmen. "Das Verrückte erschien mir zunächst zu sein, dass man immer wieder dasselbe fragte. Man wusste ja alles. Ich habe auch Mithäftlinge kennengelernt, die einfach nicht gestanden haben. Bei denen wurde die Angst erzeugt: Wenn man nicht spurte, würde man eventuell auch ohne Verurteilung bis an sein Lebensende dort isoliert sitzen."
Trotz qualvoller Verhöre: Preuß bekommt keine Opferrente
Nicht nur die sinnlosen Verhöre während der Nacht, auch den Schlafentzug tagsüber wird Preuß nie vergessen. Er ist heute selbst überrascht, wie gut er die Erlebnisse von damals weggesteckt hat, wie er sagt. Trotzdem würde er sich eine Anerkennung seiner Haftzeit wünschen. Doch die bekommt er nicht. Preuß hat heute keinen Anspruch auf Opferrente.
Keine Anerkennung bei mangelnder Bedürftigkeit
DDR-Häftlinge können ihr Urteil aufheben lassen, werden so rehabilitiert. Dann bekommen sie einmalig 307 Euro Entschädigung pro Haftmonat. Wer länger als sechs Monate in Haft war, erhält die sogenannte Opferrente - 250 Euro monatlich, ein Leben lang. Preuß wäre also ein Kandidat für die Opferrente. Doch es gibt einen Haken: Wer heute mehr als 1.173 Euro verdient, also nicht als bedürftig gilt, bekommt nur die Haftschäden bezahlt, die sonst zusätzlich ausgeglichen würden. Die Opferrente entfällt. Und genau diese Einkommensgrenze überschreitet Preuß. Keine Anerkennung wegen mangelnder Bedürftigkeit - ist das gerecht?
50 Euro Erhöhung der Opferrente
Hartmut Büttner vom Niedersächsischen Netzwerk für Stasi- und SED-Opfer findet das überhaupt nicht gerecht. "Wir fordern seit Langem, dass die Bedürftigkeitsregelung wegfällt. Dass nur Leute, die heute bedürftig sind, diese Leistungen erhalten können, finden wir absolut unmöglich." Eine Forderung, der die Bundesregierung bisher nicht nachgekommen ist. Immerhin plant das Bundesjustizministerium inzwischen eine Anhebung der Opferrente mit den bestehenden Einschränkungen um 50 Euro pro Monat auf dann 300 Euro. Wenn der Bundestag schnell entscheidet, könnte die Erhöhung zum 1. Januar 2015 kommen. Knapp 30 Millionen Euro zusätzlich wollen Bund und Länder dafür jährlich bereitstellen. Eine erste Nachbesserung für Haftopfer. Aber was ist mit den anderen Opfern der politischen Verfolgung, die zum Beispiel bespitzelt wurden oder deren berufliche Karrieren von der Stasi zerstört wurden?
Hilfe vom Niedersächsischen Innenministerium
In Niedersachsen können sich Stasi-Opfer ans Innenministerium wenden. Dort gibt es seit April 2004 eine Beratungsstelle, die Betroffene bei den Anträgen auf Entschädigung unterstützt. Referatsleiter Klaus Engemann ist stolz auf dieses Angebot: "Niedersachsen hat als einziges westliches Bundesland diese Koordinierungsstelle eingerichtet. Einfach weil sehr viele Opfer der DDR und der Stasi nach Niedersachsen übergesiedelt sind." Die Beratungsleistungen des Ministeriums sind umfassend. "Das geht so weit, dass wir nicht nur den Opfern helfen und ihnen Auskunft und Daten geben, wo sie zum Beispiel die Rente beantragen können, sondern wir machen auch Opferberatungstage in den niedersächsischen Kommunen, zwei Mal im Jahr. Da können sich dann die Opfer hinwenden, können ihre Fragen loswerden", so Engemann.
Viele Täter haben eine garantierte Rente, Opfer müssen kämpfen
Mehr als beraten kann das Innenministerium aber nicht. Und es gibt noch eine Ungleichbehandlung, die viele Opfer stört. Zwischen Opfern und Tätern klafft eine Lücke. Denn während nicht alle Opfer Unterstützung bekommen, erhalten viele Täter eine komfortable Rente. So wird auch ehemaligen Stasi-Leuten der Verdienst jedes Arbeitsjahres angerechnet, bis maximal zum Durchschnittseinkommen der DDR. Zunächst lag die Grenze niedriger, doch das Bundesverfassungsgericht gestand den Tätern mehr zu.
Für Preuß, der heute in Großburgwedel lebt, ein Schlag ins Gesicht. Nicht wegen des Geldes, es geht ihm um Anerkennung: "Wir, und das gilt fast für alle Opfer, uns geht es eigentlich mehr darum, dass ohne Wenn und Aber gesagt wird: 'Jawohl, Ihr seid schlecht behandelt worden, Ihr habt einen Beitrag zur Beendigung des Systems geleistet.'" Eine Anerkennung, für die viele Stasi-Opfer in Niedersachsen weiterhin kämpfen wollen.