Stand: 14.09.2014 16:00 Uhr

Die Augen und Ohren der Stasi in Niedersachsen

von Angelika Henkel und Stefan Schölermann

In kaum einem anderen Bundesland war das Netz der Stasi-Spione so eng gestrickt wie in Niedersachsen: Ende der 1980er-Jahre standen mindestens 200 Menschen zwischen Harz und Ostfriesland in Diensten des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit, wie der Leiter der Stasiunterlagenbehörde (BStU), Roland Jahn, jetzt dem NDR bestätigte: "Gerade an Niedersachsen bestand großes Interesse bei der Stasi. Auch die Nordseeküste war von großem Interesse. Man hat von den Schiffen aus sogar Richtfunkstrecken des Nato-Funkverkehrs abgehört. Aber auch Industrie- und Forschungseinrichtungen haben für die Stasi eine große Rolle gespielt."

Stasi-Spione beim Niedersächsischen Verfassungsschutz

Während Fälle wie der des Kanzleramtsspions Günter Guillaume bis heute immer wieder Erwähnung finden, sind die "Erfolge" der Stasi in Niedersachsen weitgehend in Vergessenheit geraten. Dabei konnte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) gerade hier seine Top-Quellen platzieren - vor allem bei jener Behörde, die sich mit der Bekämpfung von Ost-Spionen beschäftigte: dem Niedersächsischen Verfassungsschutz. Ausgerechnet in der Fachabteilung für Spionageabwehr des Nachrichtendienstes hatte das "Ministerium Horch und Guck" (DDR-Jargon für die Stasi, Anm. d. Red.) zwei Top-Quellen untergebracht. Mehr als zehn Jahre lang belieferten die beiden Beamten ihre Führungsoffiziere im Osten mit brisanten Details aus der Behörde. Claus-Henning Schapper war ab 1990 Staatssekretär im niedersächsischen Innenministerium - zu diesem Zeitpunkt waren die Stasi-Quellen bereits aufgeflogen. In der Rückschau bezeichnet der Fachmann im NDR Gespräch den Vorfall noch heute als einen "Abgrund von Landesverrat".

Verfassungsschutz-Mitarbeiter hebeln Spionage-Abwehr aus

Aufgeflogen sind die beiden erst nach der Wende und der Auflösung des Stasi-Ministeriums. Bis dahin hatte ihr Verrat weite Teile der niedersächsischen Spionageabwehr praktisch lahmgelegt, ohne dass man in der Behörde an der hannoverschen Büttnerstraße davon etwas gewusst hätte. Die Bilanz fällt erschreckend aus, wie Niedersachsens früherer Innenminister Gerhard Glogowski (SPD) heute sagt: "Mitarbeiter im Verfassungsschutz, die einen gegnerischen Geheimdienst über Planungen und Arbeit des Nachrichtendienstes unterrichten, sorgen natürlich dafür, dass die Maßnahmen unwirksam sind."

VIDEO: Glogowski: "Mit simpelsten Methoden erpresst" (2 Min)

Ex-Innenminister wurde schon als Bürgermeister ausspioniert

Glogowski, der 1990 Innenminister wurde und in dessen Amtszeit die Verurteilungen der Spione fiel, stand zuvor selbst jahrelang im Visier der Stasi. Damals war er noch Oberbürgermeister in Braunschweig. Die Stadt unterhielt schon lange vor der Wende freundschaftliche Kontakte zur Partnerstadt Magdeburg im heutigen Sachsen-Anhalt. Bei den zahlreichen Besuchen in der Domstadt sei das Interesse der Stasi zu spüren gewesen, sagt Glogowski heute: "Wenn wir dort waren, sind wir morgens Essen gegangen, mittags waren wir in einer anderen Gaststätte und abends in einer dritten - und immer waren es dieselben Kellnerinnen und Kellner." Die Gastronomiegehilfen - viele von ihnen standen in Diensten von "Horch und Guck".

Glogowski: "Verdammt, was haben die alles aufgezeichnet?"

Die Ausmaße der Stasi-Bespitzelungen in der Heimat in Niedersachsen hatte sich Glogowski damals allerdings nicht vorstellen können. Heute weiß er: Sobald er zum Telefon griff, hörte die Stasi mit. "Ich bin abgehört worden, mein Fahrer ist abgehört worden, meine Sekretärin ist abgehört worden, als wir damals die Kontakte nach Magdeburg hatten." Heute beschleicht ihn ein seltsames Gefühl, wenn er daran zurückdenkt: "Man fragt sich: Verdammt nochmal, was haben die da alles an Bemerkungen aufgezeichnet, die du gemacht hast? Die ich natürlich nicht öffentlich hätte werden lassen wollen. Aber: Die sind nie an mich herangetreten." Erfahren wird es wohl auch in Zukunft niemand. Glogowskis Stasi-Akte ist offenbar vernichtet worden.

Geheimnisverrat in der "Geheimregistratur"

Eine weitere Agentin hatte die Stasi ausgerechnet dort platziert, wo die vertraulichsten Papiere verwahrt werden: in der "Geheimregistratur" des niedersächsischen Innenministeriums. Irene S. war dort als Sekretärin tätig, an jenem Ort, zu dem nur sehr wenige Spitzenbeamte Zugang haben. Immerhin lagerte hier unter anderem der Plan der Landesregierung für die zivile Verteidigung im Spannungsfall. Ein Papier, das so brisant war, dass nur ein Exemplar davon existierte und von dem weder Abschriften noch Kopien angefertigt werden durften. Irene S. tat es trotzdem. Ihr Ehemann stand ihr dabei hilfreich zur Seite.

Illegaler Stasi-Stützpunkt in Garbsen

Aktiv waren "Inoffizielle Mitarbeiter" (IM) der Stasi auch an vielen anderen Orten in Niedersachsen, in Behörden, wissenschaftlichen Einrichtungen und vor allem auch in Industriebetrieben. Denn der Wissenshunger der DDR nach westlichem Know-how war unstillbar. In der Kleinstadt Garbsen am Rande Hannovers unterhielt die Stasi einen illegalen Stützpunkt, die berüchtigte "Residentur Mitte": eine Art Familienunternehmen, das die DDR unter anderem mit brisanten Nato-Papieren versorgte. Gen Osten geliefert wurden unter anderem das sogenannte Poseidon-Papier: ein streng geheimes Dokument, in dem Raketenstandorte der US-amerikanischen Streitkräfte in Niedersachsen und Bremen aufgelistet waren.

Bekannt gemacht hat diese "Residentur Mitte" der Garbsener Politiker Hartmut Büttner, der mehr als drei Legislaturperioden für die CDU im Bundestag saß und sich intensiv mit der Stasi und vor allem ihren Opfern auseinandergesetzt hat. Ihn macht es betroffen, dass sich in seiner Heimatstadt eine konspirative Zelle der Stasi über Jahre etablieren konnte. Und es erfüllt ihn mit Sorge: "Wie groß muss der Einfluss der Stasi gewesen sein, wenn selbst in diesem kleinen Garbsen eine so große Zahl von Tätern aktiv war?"

Verrat oder Erhalt des Friedens?

Für die meisten DDR-Spione, die nach der Wende aufgeflogen sind, endete die Agententätigkeit vor Gericht - mit langjährigen Haftstrafen. Nicht jeder zeigte im Prozess Einsicht. Zu ihnen gehört Karl Gebauer aus Ostfriesland, der der DDR streng geheime Bundeswehrunterlagen verschaffte. Nach seiner Haftentlassung rühmte er sich auch im NDR Fernsehen, er habe mit seinem Verrat vor allem der Erhaltung des Friedens gedient.

Eine Sicht der Dinge, für die der langjährige Sprecher der "Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter", Oberstaatsanwalt a.D. Hans-Jürgen Grasemann, kein Verständnis hat: "Jeder, der sich als Bundesbürger der Stasi andiente, wusste, dass die Staatssicherheit der DDR eine relativ schlimme Organisation war, die keine Rücksicht nahm auf menschliche Schicksale."

Stasi kann Ende der DDR nicht verhindern

Trotz ihres dichten Agentennetzes in West- und Ostdeutschland konnte auch jene Organisation den Zusammenbruch des DDR-Regimes nicht verhindern, die sich als "Schild und Schwert" der SED verstanden hat. Und dafür, so Georg Herbstritt, Historiker bei der Stasiunterlagenbehörde, gebe es einen guten Grund: "Das zeigt, dass ein Land nicht dadurch Stabilität erreicht, dass es einen martialischen Geheimdienst hat. Politische Stabilität stützt sich auf ganz andere Faktoren als einen Geheimdienst."

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Niedersachsen | 18.09.2014 | 19:05 Uhr

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