Johann Hinrich Wichern: Der Menschenretter
Reformer, Gefängnisdirektor und nebenbei auch Erfinder des Adventskranzes: Der umtriebige Hamburger Theologe Johann Hinrich Wichern legte den Grundstein für das Diakonie-Wesen und die moderne Sozialpädagogik.
Er hat nicht nur das Rauhe Haus in Hamburg gegründet, sondern gilt auch als bedeutender Kirchenrefomer des 19. Jahrhunderts, Begründer der Diakonie und des Konzeptes der Inneren Mission: Als ältestes von sieben Kindern wurde Johann Hinrich Wichern am 21. April 1808 in Hamburg in einfache bürgerliche Verhältnisse hineingeboren. Er besuchte eine Privatschule und später die Gelehrten-Schule Johanneum, musste aber nach dem Tod seines Vaters bereits mit 15 Jahren als Privatlehrer mit für den Unterhalt der Familie sorgen. Das Abitur holte er später nach. Mithilfe eines Stipendiums konnte er bald ein Theologiestudium in Göttingen und Berlin absolvieren.
Während seiner Studienzeit machte er Bekanntschaften mit Menschen, die viele Ideen und Unternehmungen in seinem späteren Leben und Wirken beeinflussten, unter anderem die Theologen Schleiermacher und Neander sowie der Arzt Nikolaus Heinrich Julius. Letzterer hatte vor allem Einfluss auf Wicherns Engagement in der preußischen Gefängnis-Reform.
"Retten wollen" als Wicherns innerer Antrieb
Auch als Erneuerer des Strafvollzugs engagierte sich der junge Hamburger Theologe, allerdings war ihm hier kein so großer Erfolg beschieden wie auf den anderen Gebieten. Wichern galt als umtriebiger Mensch, der von der Idee beseelt war, Menschen retten zu wollen. Aus dieser einfachen Motivation sind bis heute bedeutsame Institutionen und Bewegungen entstanden.
Ein missionarischer Pathos trieb Wichern an. Seine frühen Begegnungen mit christlichen Erweckungsbewegungen - konservativen protestantischen Strömungen, die sich gegen einen aufklärerischen Rationalismus wendeten - prägten ihn zeit seines Lebens. Aber auch die Unfähigkeit der Kirche und des Staates, auf die Armut und die katastrophalen Zustände in Deutschland zu reagieren, können seine Unternehmungen erklären. Er wollte eben nicht disziplinieren und korrigieren, sondern Lebensraum für Kinder schaffen, in dem sie zu guten Bürgern und Christen heranwachsen können.
Anfänge: Die Jungs vom Rauhen Hause
In Hamburg leitete er als Theologe und Lehrer eine Sonntagsschule in St. Georg und begegnete so dem Leben in den Armutsvierteln der Hansestadt. Um den Kindern zu helfen - sie zu retten -, gründete er 1833, 25-jährig, das Rauhe Haus zur "Rettung verwahrloster und schwer erziehbarer Kinder". In einer alten Bauernkate in Hamm nahm Wicherns Idee Gestalt an. Dabei war sein "Heim" alles andere als eine damals übliche Besserungsanstalt.
Das Rauhe Haus war kein Arbeits- oder Waisenhaus, sondern eine Einrichtung, in der die "Zöglinge" in familienähnlichen Verhältnissen aufwachsen sollten ("freie Kinder in einer freien Familie"). Unterwiesen wurden sie dabei von den "Brüdern" - von Wichern ausgebildete Männer, zumeist Handwerker -, die mit ihnen zusammenlebten.
Beeinflusst war diese Pädagogik von Pestalozzis Prinzip einer ganzheitlich orientierten Lebenserziehung. Die Einrichtung hatte von Anfang an großen Zulauf und entwickelte sich auch über die Grenzen Hamburgs hinaus zu einem Vorbild moderner Jugendfürsorge.
Wichern erfindet den Adventskranz
Die Arbeit mit den Kindern im Rauhen Haus war es auch, die Wichern 1839 dazu brachte, etwas zu erfinden, das es heute in aller Welt gibt - den Adventskranz. Geboren wurde er aus einer "Notsituation": Die Kinder fragten in der Adventszeit ständig nach, wann endlich Weihnachten sei. Schließlich nahm Wichern ein großes Wagenrad, steckte 20 kleine und vier große Kerzen darauf und entzündete jeden Tag eine.
Diakonie und Innere Mission
Mit der Professionalisierung des Dienstes am Nächsten legte Wichern den Grundstein für das Diakoniewesen und eine moderne Sozialpädagogik insgesamt. Die im Rauhen Haus ausgebildeten Gehilfen oder "Brüder" arbeiteten bald in ganz Deutschland und verbreiteten so auch Wicherns Ideen. Eine Fachhochschule lehrt bis heute die Grundideen Wicherns von einer soliden Ausbildung für professionelle Helfer.
Doch Wicherns Ideen gingen über den begrenzten Bereich der Jugendhilfe hinaus. Er wollte die Kirche insgesamt reformieren. Auf dem ersten evangelischen Kirchentag in Wittenberg im Revolutionsjahr 1848 hielt er eine über fünfstündige Stegreif-Rede, in der er die Notwendigkeit einer Inneren Mission für die Kirche begründete. Grund waren auch die von ihm wahrgenommenen Auswirkungen der wirtschaftlichen und sozialen Folgen gesellschaftlicher Umwandlungsprozesse - Industrialisierung und Verstädterung -, die weiten Teilen der Bevölkerung vor allem Armut und Verelendung brachten. 1849 wurde der "Centralausschuss für die Innere Mission der deutschen evangelischen Kirche" auf seine Initiative hin gegründet. Dieser "Centralausschuss" ist der direkte Vorläufer des heutigen Diakonischen Werkes.
Begünstigt wurden diese Reformen durch das damals ausgeprägte Vereinswesen, das Wichern zur Umsetzung seiner Ideen nutzte. Der "Centralausschuss" bündelte die vielen Initiativen, die von ihm und anderen angestoßen worden waren, und bot eine kommunikative Plattform. Die Kirche beargwöhnte anfangs diese Aktivitäten teilweise, nutzte sie aber am Ende und entwickelte sie bis heute weiter.
Strafvollzug und Gefängnisreform
1857 wurde Wichern Vortragender Rat für das Strafanstalts- und Armenwesen in Preußen. König Friedrich Willhelm IV. war auf ihn aufmerksam geworden, als er sich 1849 in einer Denkschrift verstärkt für die kirchliche Mitwirkung im Strafvollzug einsetzte. Der König wollte mit ihm die Gefängnisreformen durchsetzen, die ihm sein Parlament immer wieder verweigerte.
Wichern sorgte dafür, dass das vom König favorisierte sogenannte Pennsylvania-System in Preußen konsequent eingeführt wurde. Dieses System wurde unter anderem im damaligen Modellgefängnis Pentonville in England praktiziert und geht auf Ideen der Quäker in Amerika zurück. Der König war bei einem Besuch von Pentonville so begeistert, dass er dieses System auch in Preußen haben wollte. Im Zellengefängnis Lehrter Straße (später JVA Moabit) nahmen diese Reformen Gestalt an.
Bei diesem neuen Gefängnistyp handelte es sich um sternförmige Bauten, die eine fast vollständige Kontrolle der Gefangenen ermöglichten. Die Gefangenen waren in Einzelzellen untergebracht und hatten keinen Kontakt miteinander. Sie lebten isoliert in den Zellen, abgeschottet - sogar im Gottesdienst, wo sie in Betstühlen saßen, die nur den Blick nach vorn auf die Kanzel erlaubten.
Wichern scheiterte mit seiner Reform des Strafvollzuges am Widerstand der Liberalen. Zum einen, weil diese ihn letztlich nicht als einen der ihren akzeptierten und mit seinen Ideen, aber vor allem mit seinen Gehaltsforderungen und seinen mit dem König ausgehandelten Vertragsbedingungen auf Kriegsfuß standen. So hatte er sich unter anderem zusichern lassen, die Hälfte des Jahres im Rauhen Haus und die andere Hälfte in Berlin verbringen zu können. Zum anderen scheiterte er, weil Teile des preußischen Landtages das System der Einzelhaft ablehnten sowie das zu "religiöse" und unmenschliche Regime der als Wärter eingesetzten Brüder des Rauhen Hauses kritisierten.
Wichern und die Politik
Politisch war Wichern konservativ, unberührt von der Revolution 1848, die er als gottlos beschrieb. Er wandte sich gegen die neuen Bewegungen und Strömungen wie Kommunismus und Sozialdemokratie. Sein Engagement für den preußischen König lag auch darin begründet, dass er dessen Ansichten von einem christlichen Staat, geprägt von einer christlichen Obrigkeit, teilte. So revolutionär Wicherns Sozialreformen innerhalb der Kirche und auch für die Gesellschaft waren, so konservativ und rückwärtsgewandt waren sein Staats- und Herrschaftsverständnis.
Die Ideen der Erweckungsbewegung hatten einen wichtigen Einfluss und ließen ihn zwar die Armut und Verelendung sehen, daraus aber sehr eigene Schlüsse ziehen. Für ihn waren die Einflüsse des Kommunismus und der Sozialdemokratie, die er als gottlos und gegen den Staat orientiert ansah, für diese Verelendung mitverantwortlich. Er sah diese Verelendungen nicht als Folge der gesellschaftlichen Umwälzungen seiner Zeit an, sondern als Mangel an Glaube, zu dem eben auch die Revolution und die Arbeiterbewegung beitrugen.
Seine Arbeit in der Jugendfürsorge wirkt allerdings bis heute nach und hat das Wohlfahrtssystem über die Kirche hinaus nachhaltig reformiert.
Wichern starb nach mehreren Schlaganfällen und anschließendem langen Siechtum als mürrischer Mann am 7. April 1881 in Hamburg.