Der Fall Jan Philipp Reemtsma: Das Opfer und seine Entführer
Mitternacht; da war der Wald, in dem man mich ausgesetzt hatte, dann war da das Dorf gewesen, das erste Haus, in dem noch Licht brannte, und der darin wohnte, hat mich ohne Wenn und Aber hereinkommen lassen, obwohl ich ihm wie ein sonderbarer Strolch vorgekommen sein muss. Ich habe meine Frau angerufen, gesagt: 'Ich bin's. Ich bin frei.' Jan Philipp Reemtsma, "Im Keller"
Mit diesen Worten hat Jan Philipp Reemtsma die ersten Minuten in Freiheit nach seiner Entführung beschrieben. 33 Tage und Nächte hatte der damals 43-Jährige in einem Kellerverlies verbracht. Am 26. April 1996 ließen ihn die Entführer gegen Zahlung von 30 Millionen D-Mark endlich frei.
Großteil des Lösegelds verprasst und verschollen
Die Entführung des Hamburger Literaturwissenschaftlers, Mäzens und Multimillionärs gilt als einer der spektakulärsten Kriminalfälle in der Geschichte der Bundesrepublik. Selten war ein Entführungsopfer so lange in der Hand seiner Entführer, nie wurde so viel Lösegeld bezahlt - 15 Millionen D-Mark und 12,5 Millionen Schweizer Franken. Von der Beute wurden bis heute allerdings nur rund 1,5 Millionen Mark sichergestellt. Ein großer Teil dürfte bei der Geldwäsche und auf der Flucht aufgebraucht worden sein.
Reemtsma wird verschleppt und in Ketten gelegt
Die Entführung beginnt am Abend des 25. März 1996. Reemtsma verlässt sein Wohnhaus im Hamburger Stadtteil Blankenese, um sich aus seinem 50 Meter weit entfernten Arbeitshaus ein Buch zu holen. Auf dem Weg dorthin fangen ihn die Täter ab. Sie schlagen ihn nieder, verbinden ihm die Augen mit Klebeband und bringen ihn in ein eigens für die Entführung angemietetes Haus in Garlstedt im Landkreis Osterholz nördlich von Bremen. Dort legen sie ihr Opfer in Ketten. In dem Raum befinden sich nur ein Tisch, ein Stuhl, eine Matratze und ein Campingklo. Bevor die Täter zu Reemtsma hereinkommen, klopfen sie. Dann muss er sein Gesicht auf die Matratze drücken. Um später nicht wieder erkannt zu werden, redet der Kopf der Entführer, Thomas Drach, nur auf Englisch mit Reemtsma.
Erpresserbrief mit Handgranate beschwert
Noch am Abend der Entführung findet Reemtsmas Ehefrau Ann Kathrin Scheerer einen Erpresserbrief. Er ist auf einer Mauer vor ihrem Haus abgelegt - und mit einer Handgranate beschwert. Darin fordern die Entführer 20 Millionen Mark Lösegeld und drohen damit, ihre Geisel zu ermorden, falls Presse oder Polizei eingeschaltet werden sollten.
Reemtsmas Frau informiert die Polizei dennoch in derselben Nacht.
Zwei Geldübergaben scheitern
Zwei Tage später schicken die Entführer ein erstes Lebenszeichen: ein Polaroidfoto ihres verletzten Opfers sowie einen Brief mit Handlungsanweisungen. Schon bald ahnen sie, dass die Polizei informiert ist und drohen in einem weiteren Brief: "Sollte die (Lösegeld)-Übergabe aus polizeitaktischen Gründen scheitern, (...) schneiden wir Herrn Reemtsma einen Finger ab. Eine gebrochene Nase hat er bereits."
Am 3. April um 2.45 Uhr ruft einer der Entführer an, die Stimme verfremdet durch einen Verzerrer. Doch die verabredete Geldübergabe durch Reemtsmas Ehefrau und den zum Geldboten bestimmten Anwalt Johann Schwenn scheitert. Erst eine Woche später melden sich die Entführer erneut. Sie lotsen Schwenn am 13. April erst nach Luxemburg, dann auf einen Parkplatz bei Trier, wo Schwenn, wie von den Entführern gefordert, den Geldsack über einen Zaun wirft. Doch Schwenn hat sich verspätet, weil eine mitfahrende Polizeibeamtin ihren Pass vergessen hat. Niemand holt die Millionen ab. Getarnte Polizisten sammeln das Geld am nächsten Morgen wieder ein. Das Bangen um das Opfer beginnt erneut.
Lösegeldübergabe ohne Polizei
Die Entführer beschreiten nun einen neuen Weg. In Absprache mit Jan Philipp Reemtsma nehmen sie Kontakt zu dem Hamburger Pastor Christian Arndt und dem Kieler Soziologieprofessor Lars Clausen auf. Beide sind private Vertraute des Entführten. Sie sollen die Verhandlungen und die Geldübergabe in eigener Regie übernehmen. Die Polizei bleibt diesmal außen vor. Die Lösegeld-Forderung erhöhen die Erpresser auf 30 Millionen.
Am Abend des 24. April brechen Arndt und Clausen mit zwei Reisetaschen auf. Ihr Inhalt: 30 Millionen Mark, ein Teil davon in Schweizer Franken. Bei Krefeld lassen die beiden den Wagen an einem Feldweg zurück. Wenig später melden sich die Entführer: Sie haben das Geld erhalten. Stunden danach bringen die Entführer Reemtsma in einen Wald bei Harburg im südlichen Hamburg. Dort lassen sie ihn frei. Es ist der 26. April 1996, kurz vor Mitternacht.
Die Medien halten still
Was in der Öffentlichkeit erst später bekannt wird: Schon kurz nach der Entführung waren bei Journalisten Gerüchte über die Entführung durchgesickert. Polizei und Familie appellieren jedoch an sie, nicht darüber zu berichten, um Reemtsmas Leben nicht zu gefährden. Die Kooperation gelingt: Alle Medien halten sich zurück, obwohl immer mehr Journalisten von dem Verbrechen erfahren. Erst nach Reemtsmas Freilassung stürzen sie sich auf den Fall, berichten tagelang in allen Einzelheiten.
Verschlüsselte Kontaktaufnahme in "Hamburger Morgenpost"
Eine Hamburger Tageszeitung ist von Anfang an in besonderer Weise in den Entführungsfall eingebunden: In einem ihrer ersten Erpresserbriefe fordern die Entführer Reemtsmas Ehefrau Ann Kathrin Scheerer auf, eine Kleinanzeige in der "Hamburger Morgenpost" zu schalten. Titel der Grußbotschaft: "Alles Gute Ann Kathrin", dazu eine Faxnummer. In den folgenden Tagen und Wochen verwendet die Polizei den Weg über die Kleinanzeigen fast täglich, um mit den Entführern in Kontakt zu treten, etwa um Verhandlungsbereitschaft zu signalisieren oder ein Lebenszeichen zu erbitten. Für Außenstehende erscheinen die Texte rätselhaft. Sie enthalten Botschaften wie: "Sag mal, warum hast du mir kein Bild geschickt?", "Das Warten wird unerträglich" und immer wieder: "Melde Dich."
Komplizen Koszics und Richter werden 1997 verurteilt
Einen Monat nach dem Ende der Entführung gehen der Polizei in Spanien zwei Komplizen des Haupttäters Thomas Drach ins Netz. Die Polizei hatte das Haus in Garlstedt ausfindig gemacht, in dem die Täter ihr Opfer gefangen hielten und war über den Mietvertrag auf die beiden gestoßen. Am 14. Februar 1997 werden Wolfgang Koszics und Peter Richter zu zehneinhalb und fünf Jahren Haft verurteilt. Koszics war an der Planung der Entführung beteiligt und an der Überwachung des Opfers. Richter hatte die notwendigen Geräte besorgt und die Erpresseranrufe bei der Familie getätigt.
Koszics wird 2011 aus der Haft entlassen und fühlt sich danach eigenen Angaben zufolge bedroht. Im Februar 2012 wird seine Leiche an der Küste Süd-Portugals entdeckt - die Umstände, wie und warum der damals 72-Jährige von einer Klippe stürzte, können nicht restlos aufgeklärt werden. Lange halten sich Spekulationen sowohl über einen Suizid, da ein Teil seiner Beute versehentlich verbrannt worden war, wie auch über einen Mord, da Koszics Zugriff auf weitere Teile der Beute gehabt haben könnte. Ob es einen tatsächlichen Zusammenhang zum Lösegeld gibt, bleibt im Dunkeln.
Piotr L., der dritte Komplize, stellt sich mehr als drei Jahre nach der Tat in Hamburg und wird am 2. September 1999 zu sechs Jahren Haft verurteilt. Nachdem er die Hälfte der Strafe verbüßt hat, wird er 2002 in sein Heimatland Polen abgeschoben.
Haupttäter Thomas Drach wird erst 1998 gefasst
Die Fahndung nach Thomas Drach, den mehrere Zeugen als Bewohner des Hauses in Garlstedt identifiziert hatten, verläuft zunächst erfolglos. Erst 1998 wird er in Argentinien verhaftet. Zwei Jahre später wird er nach Deutschland ausgeliefert und 2001 zu vierzehneinhalb Jahren Haft verurteilt.
Eigentlich soll Drach im Juli 2012 aus dem Gefängnis entlassen werden, doch der Reemtsma-Entführer wird im November 2011 zu einer weiteren Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten wegen räuberischer Erpressung verurteilt. Drach soll 2009 mit zwei Briefen aus der Haft heraus versucht haben, einen Bekannten zur Erpressung seines jüngeren Bruders Lutz anzustiften. Am 21. Oktober 2013 ist es dann so weit: Thomas Drach kommt nach mehr als 15 Jahren Haft unter strengen Auflagen aus dem Gefängnis frei.
Jahrelange Jagd nach Lösegeld-Millionen
Die Frage nach dem verschwundenen Lösegeld indes bleibt. Neben den staatlichen Ermittlern ist auch eine von Reemtsma beauftragte Sicherheitsfirma jahrelang auf der Suche nach den Millionen. Drachs Bruder Lutz, der 2002 in Madrid gefasst wurde, hatte 2004 gestanden, knapp vier Millionen Euro aus dem Reemtsma-Lösegeld gewaschen zu haben. Er erhielt eine sechseinhalbjährige Haftstrafe. Ein weiterer Komplize wird 2008 wegen Geldwäsche zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Doch ein Großteil des Lösegelds gilt nach wie vor als verschollen beziehungsweise verprasst. Seit 2016 ist die Suche offiziell beendet.
Thomas Drach 2021 erneut festgenommen und zu Haftstrafe verurteilt
Acht Jahre nach seiner Haft-Entlassung im Fall Reemtsma am 21. Oktober 2013 wird Entführer Thomas Drach im Februar 2021 erneut festgenommen - in Amsterdam. Polizei und Staatsanwaltschaft werfen ihm die Beteiligung an vier Überfällen auf Geldtransporter in Köln, Frankfurt am Main und Limburg in den Jahren 2018 und 2019 vor. Summe der Beute: mehr als 230.000 Euro. Bei zwei der Taten soll Drach jeweils auf einen Sicherheitsmitarbeiter geschossen haben.
Das Kölner Landgericht verurteilt Drach am Donnerstag zu 15 Jahren Haft und anschließender Sicherungsverwahrung. Wegen der Schüsse auf die Mitarbeiter der Sicherheitsunternehmen ist das Gericht unter anderem von versuchtem Mord ausgegangen. Es schließt sich mit dem Urteil den Forderungen der Staatsanwaltschaft an. Dem Angeklagten sei das "Wohl und Wehe" der Opfer "völlig egal" gewesen, so der Richter. Drachs Verteidigung wollte einen Freispruch. Drach will das Urteil nicht akzeptieren und legt über seine Anwälte Revision ein.
Thomas Drach gilt als einer gefährlichsten Schwerverbrecher Deutschlands. Sein Name bleibt untrennbar mit der Entführung von Jan Philipp Reemtsma 1996 verbunden.