Volkszählung im besetzten Deutschland 1946. © picture-alliance/ dpa Foto: dpa DANA

Volkszählung 1939 im Nazi-Regime: Statistik unterm Hakenkreuz

Stand: 17.05.2024 00:00 Uhr

Die Volkszählung im Deutschen Reich am 17. Mai 1939 diente den Nationalsozialisten zur totalen Erfassung ihrer Bürger - und zur Aussonderung der Juden. Dafür wird eine "Ergänzungskarte für Angaben über Abstammung und Vorbildung" eingesetzt.

von Carina Werner

Volkszählungen hat es zu allen Zeiten gegeben, ob im Römischen Reich oder im alten Ägypten. Selbst die Geburt von Jesus Christus wäre anders verlaufen, hätten sich Maria und Josef nicht zur Zählung nach Bethlehem aufgemacht. Schon immer dienten Volkszählungen der Kontrolle der Bürger, waren sie ein machtpolitisches Instrument. Doch die Volkszählung vom 17. Mai 1939 war von besonderer Brisanz: Ermöglichte sie dem NS-Regime nicht nur die totale Erfassung und Klassifizierung der Deutschen, sondern auch aller "Nicht-Arier", ob in Hamburg, Braunschweig oder Berlin.

Totale Kontrolle durch Volkszählung

"Schon ihrem Wesen nach steht die Statistik der nationalsozialistischen Bewegung nahe", notiert 1940 Friedrich Zahn, Präsident der Deutschen Statistischen Gesellschaft. Aufgrund dieser - zumindest damals festgestellten - Nähe ist es nur konsequent, dass sich die Nazis der Statistik von Anfang an bedienen, um die Menschen bis in ihre Privatsphäre hinein in ihrem Denken und Handeln zu erfassen. Am 16. Juni 1933 findet die erste Volkszählung unter den neuen Machthabern statt. Bereits hier werden Hunderttausende "Glaubensjuden" registriert. Doch auch andere Daten sind für die Nazis von Interesse: beispielsweise die Kinderanzahl, die jede Frau angeben muss - Zahlen, die der Berechnung eines "Geburtensolls" für "biologisch wertvolle" Frauen dienen.  

Sammeln persönlicher Daten unter NS-Vorzeichen

Im Dritten Reich hat das Sammeln von persönlichen Daten insgesamt Konjunktur. In Behörden und Ämtern werden akribisch Daten eingeholt. Als musterhaft gilt das Meldewesen in Hamburg. 1935 bittet die Hamburger Innenbehörde den Reichsminister des Inneren "dringend", "die reichsgesetzliche Regelung des Meldeverfahrens so zu gestalten, dass Hamburg als die größte Handels- und Hafenstadt Deutschlands mit dem starken Verkehr von Ausländern, Seeleuten und sonstigen fluktuierenden Elementen seine bewährten Meldeeinrichtungen in ihrer bisherigen Zweckmäßigkeit und Wirksamkeit erhalten kann".

Im Statistischen Amt Hamburg sind 360 Mitarbeiter tätig. Ihr Leiter ist Dr. Helmut Sköllin, der nach 1945 im Zuge der Entnazifizierung entlassen wird - und mit ihm über 50 Prozent seiner Mitarbeiter. Die Angestellten in den Statistischen Ämtern werden Ende der 1930er-Jahre längst nicht nur nach Qualifikation ausgewählt. Beispielsweise schlägt 1938 das Braunschweiger Amt zwei qualifizierte Bewerber aus, um einen Mann fast ohne Erfahrung einzustellen, der jedoch seit Langem NSDAP-Mitglied ist.

Effektive Datenverarbeitung mit Hollerith-Zählmaschinen

Hollerith-Zählmaschine, entwickelt von dem Ingenieur Hermann Hollerith (1860-1929). © picture-alliance / akg-images Foto: akg-images
Eine Hollerith-Zählmaschine, eingesetzt bei der Volkszählung 1939.

Durch immer modernere Zähl- und Sortiermaschinen wird die Verarbeitung von statistischem Material beschleunigt. Eingesetzt werden die hocheffizienten Hollerith-Zählmaschinen der Deutschen Hollerith Maschinen Gesellschaft (Dehomag), eine Tochtergesellschaft des amerikanischen Konzerns IBM.

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Geplant wird die größte Volkszählung der Welt

Die nächste Volkszählung ist für den 17. Mai 1938 geplant, doch aufgrund des "Anschlusses" von Österreich im März 1938 wird sie um ein Jahr verschoben. Geplant ist nichts Geringeres als die größte und umfassendste Volkszählung der Welt. Dafür sind gründliche Vorbereitungen nötig: Allein in Hamburg werden über 16.000 freiwillige Helfer angeworben, die meisten sollen als "Zähler" dienen, also die Meldebögen auszählen und die Daten übertragen.

In Wolfenbüttel wirbt der Leiter des Statistischen Amtes bei den Bürgermeistern leidenschaftlich um Unterstützung, wie das Protokoll einer Sitzung aus dem Jahre 1938 zeigt: "Die Statistiken müssen für die Verwaltungsmaßnahmen geleistet werden, um unser Volk groß und glücklich zu machen", heißt es darin, und: "Leute, die bewusst falsche Angaben machen, [sollen] zur Anzeige gebracht werden, weil wir es uns nicht gefallen lassen dürfen, dass wir bewusst betrogen werden, und das Wohl des Volkes von solchen Leuten aufs Spiel gesetzt wird." Nicht nur um Zähler wird geworben, auch um die Bürger: Eine groß angelegte Propaganda mit flammenden Plädoyers im Radio wird in Gang gesetzt. Schließlich werden die Zählpapiere in der Bevölkerung verteilt.

Eine Frage der "Rasse"

Der allgemeine Volkszählungsbogen ermittelt Daten wie den Familienstand und den Beruf. Im Vergleich zu 1933 gibt es jedoch ein Novum: eine beigelegte "Ergänzungskarte für Angaben über Abstammung und Vorbildung". Sie fragt nicht nur nach der Religion, sondern auch nach der "Rasse", um "Volljuden" sowie "jüdischen Mischlinge ersten und zweiten Grades" nach Maßgabe der Nürnberger Gesetze von 1935 zu erfassen. Die Ergänzungskarte muss in einem eigenen, verschlossenen Umschlag abgegeben werden. Diese scheinbare Diskretion dient dem Zweck, die Menschen in Sicherheit zu wiegen und wahrheitsgemäße Antworten zu erhalten.

Hamburg bei Zählung und Auswertung Vorreiter

Die Durchführung der Volkszählung am 17. Mai 1939 verläuft schnell und reibungslos. Die Zähler gehen von Tür zu Tür, um die Zählbögen einzusammeln. Langwierig ist hingegen die Auszählung. Der Teil der Ergänzungskarte, der die "blutmäßige" Abstammung ermittelt, ist für die Nationalsozialisten von größtem Interesse. Die Auszählung der Juden und "Judenmischlinge" wird daher als vordringlichstes "Sofortprogramm" propagiert.

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Das Statistische Amt Hamburg arbeitet besonders schnell: Es kann die ersten Zahlen bereits im September liefern. Von 1.711.877 Hamburgern werden 8.438 Juden registriert. Damit hat sich die Anzahl der Hamburger Juden bereits stark dezimiert: Bei der Volkszählung 1933 waren es noch 16.973 Menschen jüdischen Glaubens gewesen. Ähnlich sieht es etwa in Schleswig-Holstein aus: Lebten 1933 dort über 1.400 Juden, so sind es 1939 nur noch 575. Viele Juden sind in die Großstädte abgewandert oder ins Ausland emigriert.

Ausschlachtung der Daten

Mit dem Material der Volkszählung von 1939 wurde, wie die Historiker Götz Aly und Karl Heinz Roth darstellen, die "Volkstumskartei" angelegt, eine Kartei aller "Nicht-Arier" im Deutschen Reich mit Adressen, Berufen und Mischlingsgraden. Götz Aly nennt diese Kartei den "Schlussstein in der Erfassung der Juden", mittels derer die Deportationen organisiert wurden. Hat demnach die Volkszählung von 1939 den Holocaust erst möglich gemacht? Darüber sind sich die Forscher bis heute nicht einig. Historiker wie Jutta Wietog argumentieren, Polizei und Gestapo hätten ohnehin über viel zuverlässigere Karteien verfügt, unter anderem über die erzwungenen Erhebungen der "Reichsvereinigung der Juden in Deutschland".

Die Daten aus der Volkszählung werden im Dritten Reich auch anderweitig genutzt: Die Wehrmacht verwendet sie, um den "Menscheneinsatz" im Krieg zu optimieren. In Hamburg werden die Daten zudem zur Anlage einer "Bürgerquartierkartei" eingesetzt, um den Wehrmachtsangehörigen Wohnungen zuzuweisen. Das Statistische Amt Hamburg notiert 1944: Es "konnte die Unterbringung der Wehrmachtsangehörigen durchweg glatt und reibungslos vor sich gehen. Hatte doch das Statistische Amt aus der letzten Vorkriegsvolkszählung aus dem Jahre 1939 in dem daraus entstandenen statistischen Material eine vorzügliche Grundlage und eine vollständige Übersicht über den in Hamburg zur Verfügung stehenden Raum."

Gegen den "Überwachungsstaat": Zählungen nach 1945

Menschen in einem Datenstrom von Binärcodes. © picture-alliance / KPA/Ohlenschlaeger
Der "Gläserne Mensch", der alles über sich preisgeben muss. Das lehnen die Gegner der Volkszählung 1987 ab.

Auch die Statistiker können den Untergang des Dritten Reiches nicht aufhalten. So finden die nächsten Volkszählungen im besetzten Deutschland statt: 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone, 1946 in den drei westlichen Zonen. Jetzt werden vor allem die Flüchtlinge, Umsiedler und Verstorbenen des Krieges erfasst. Nach mehreren Volkszählungen in Ost und West erregt vor allem die westdeutsche Volkszählung vom 25. Mai 1987 Aufsehen. Über 1.000 Bürgerinitiativen bilden sich, die zum Boykott ausrufen. Viele Menschen sehen sich als "gläserne Bürger" und die Bundesrepublik auf dem Weg zum "Überwachungsstaat". Broschüren werden verteilt, die empfehlen, dass man am Tag der Volkszählung sein Türschild falsch beschriften oder den Fragebogen zerschneiden solle.

Mittlerweile werden die Bevölkerungsdaten unter dem Namen Zensus erhoben. 2011 fand die erste Volkszählung nach der Wiedervereinigung Deutschlands statt. Im Frühjahr 2022 startete der jüngste Zensus in Deutschland. Erste Ergebnisse sollen noch 2024 präsentiert werden.

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Welle Nord | 13.02.2003 | 00:00 Uhr

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