Buchtitel des Romans "Die Blechtrommel" © dpa Bildfunk Foto: Maurizio Gambarini

"Die Blechtrommel": Günter Grass' kontroverser Debüt-Roman

Stand: 04.10.2024 00:00 Uhr

Im Herbst 1959 rüttelt der Debütroman "Die Blechtrommel" des noch unbekannten Günter Grass das Land auf. Nach der Frankfurter Buchmesse katapultiert er ihn in die Riege der wichtigsten deutschen Autoren.

von Jan Ehlert, NDR.de

Der Debütroman eines bis dahin weitgehend unbekannten Autors sorgt auf der Frankfurter Buchmesse 1959 für Aufmerksamkeit: die Geschichte eines kleinwüchsigen Monstrums namens Oskar Matzerath, die mit einer Mischung aus kindlicher Naivität und perfider Boshaftigkeit, mit vor Kraft strotzendem Ausdruck und tabuloser Detailfreude das literarische Deutschland durcheinanderwirbelte. "Die Blechtrommel" von Günter Grass war erschienen - ein Roman, so unerhört, dass er unter Deutschlands Kritikern "Schreie der Freude und Empörung" hervorrufen werde, prophezeite im November 1959 Hans Magnus Enzensberger, mit dem Deutschland aber wieder das "Klassenziel der Weltliteratur" erreicht habe.

"Die Blechtrommel" spaltet die Nation

Enzensberger sollte Recht behalten: "Die Blechtrommel" katapultierte Grass von einem Tag auf den anderen in die Riege der wichtigsten deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts, in eine Reihe mit Alfred Döblin und Thomas Mann. Sie sorgte gleichzeitig aber auch für einen politischen Skandal: Kirchen und Soldaten gingen gegen das Buch auf die Barrikaden, nannten es "blasphemisch" und "jugendgefährdend". Als Grass den Literaturpreis der Stadt Bremen erhalten sollte, legte der Bremer Senat sein Veto ein. Man könne unmöglich einem Autor diesen Preis geben, dessen Buch bald schon indiziert werden könne, so die damalige Bildungssenatorin. Der Proteststurm gegen diese Entscheidung war groß. Auch die Schriftsteller Ingeborg Bachmann und Paul Celan wandten sich mit empörten Schreiben an den Bremer Senat. "Die Blechtrommel" war zum Politikum geworden.

Ein Trommler gegen das Schweigen

Günter Grass (links) mit Schauspieler David Bennent als Oskar Matzerath und Regisseur Volker Schlöndorff bei den Dreharbeiten zum Kinofilm "Die Blechtrommel" (1979) © dpa-Bildfunk
Volker Schlöndorff (links) verfilmte den Roman 1979 mit David Bennent (Mitte) als Oskar Matzerath.

Doch was ist dran, an der Geschichte des Oskar Matzerath, der mit drei Jahren beschließt, nicht mehr zu wachsen, dessen Stimme Glas zerspringen lässt und der mit seiner Blechtrommel den Menschen seinen Willen aufzuzwingen vermag? Eine Geschichte, die 1899 auf einem Kartoffelacker in der Kaschubei beginnt und 1955 in einer geschlossenen Pflegeanstalt in Düsseldorf endet? Dazwischen liegen mehr als fünf Jahrzehnte deutscher Geschichte.

Sie spielt im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik, erzählt von der Zeit des Nationalsozialismus und der Gründung der Bundesrepublik, die sich lange Zeit gegen eine intensive Aufarbeitung ihrer NS-Vergangenheit sträubte. Gegen dieses Verdrängen schrieb Günter Grass an, gegen das Verschweigen ließ er seinen Oskar trommeln. Der Gnom aus der Heilanstalt entlarvt mit gespielter kindlicher Unschuld nicht nur die Scheinheiligkeit vieler ehemaliger NSDAP-Mitglieder nach dem Krieg - so steckt er seinem Vater Alfred Matzerath dessen Parteiabzeichen zu, just in dem Augenblick, als sie von russischen Soldaten kontrolliert werden - er wird selbst zum Sinnbild des deutschen Kleinbürgers der Nachkriegszeit: Das genaue Gegenteil des heldenhaften riesigen Herkules, mit dem sich die Deutschen zuvor so gern identifizierten. Ein intelligenter Erwachsener beschließt, Kind zu bleiben, um sich so jeder Verantwortung entziehen zu können, obgleich er selbst mehrfach zum Mörder wird. Erst nach dem Krieg beginnt Oskar wieder zu wachsen, doch er bleibt deformiert. Die Zeit der Verweigerung, sich der Realität zu stellen, hat ihre Spuren hinterlassen.

Am Pranger der Scheinheiligkeit

Gleichzeitig ist Oskar das Brennglas, unter dessen vermeintlich kindlicher Perspektive Grass schonungslos die Verführbarkeit und die Unzulänglichkeit der Menschen in Weimar und unter den Nationalsozialisten aufzeigt. Er seziert ihre Schwächen in Großaufnahme, mit jedem ekelerregenden Detail - etwa beim Tod von Oskars Mutter Agnes oder der ungezügelten Sexualität seiner Stiefmutter Maria. Gleichzeitig thematisiert Grass aber auch die allzu schnelle Re-Integration von Amtsträgern und Kriegsverbrechern der Nazi-Zeit: Der Leiter der Schaustellertruppe, Bebra, bleibt auch nach Kriegsende gut im Geschäft, der Obergefreite Lankes, der den Mord an mehreren Nonnen in der Normandie befehligte, gelingt der Aufstieg zum etablierten Maler - von Nonnenbildern.

Diese Zuspitzungen bis an die Grenze des Perversen mussten schockieren. Denn zum einen hatte es in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur solch eine tabubrechende Sprachgewalt noch nicht gegeben, zum anderen war ihre Aussage an jeden einzelnen gerichtet. Grass forderte mit seiner Blechtrommel zur Auseinandersetzung mit der jeweils individuellen Schuld der deutschen Bürger auf. Nicht einige wenige, nein, das deutsche Volk in seiner Gesamtheit habe den Nationalsozialismus mit allen seinen schrecklichen Auswirkungen mitgetragen, das war Oskars Botschaft. Dieser Aufarbeitung weiter aus dem Wege zu gehen, war mit einem Trommelschlag unmöglich geworden.

Literaturnobelpreis für die "Die Blechtrommel"

Günter Grass erhält am 10.12.1999 in Stockholm den Nobelpreis für Literatur. © dpa-Bildfunk Foto: Pressensbild Ekstromer
Am 10. Dezember 1999 erhielt Günter Grass in Stockholm den Nobelpreis für Literatur.

Den Werken anderer großer deutscher Schriftsteller des Jahres 1959 wurde solche Aufmerksamkeit nicht zuteil - Heinrich Böll veröffentlichte in diesem Jahr mit "Billard um halbzehn" eines seiner Hauptwerke und der junge Uwe Johnson trat mit "Mutmaßungen über Jakob" erstmals mit einem Roman an die Öffentlichkeit. Doch der Klang der Blechtrommel war weit über die deutschen Grenzen hinaus zu hören und machte damit die deutsche Literatur auch international wieder glaubwürdig. "Die Blechtrommel" sei die "Wiedergeburt des deutschen Romans im zwanzigsten Jahrhundert" gewesen, würdigte 40 Jahre nach dem Erscheinen des Buches die schwedische Akademie Grass' Erstlingswerk - und verlieh ihm für dieses Buch die höchste Literaturauszeichnung überhaupt: den Nobelpreis.

Und auch bei seinen internationalen Schriftstellerkollegen ist es "Die Blechtrommel", die seinen Ruf festigte: Salman Rushdie, John Irving, Nadine Gordimer, Kenzaburo Oe - sie alle bestätigten, dass es der kleine Oskar Matzerath mit seiner Kindertrommel gewesen sei, der sie in ihrem Schreiben motiviert und inspiriert habe. "'Die Blechtrommel' ist der größte Roman eines lebenden Autors", urteilte Irving 1982. Aber, so Irving weiter: Auch Grass selbst habe dieses erste Werk nicht mehr übertroffen.

"Die Blechtrommel": Ruhm und Fluch für Günter Grass

Grass selbst hat an dieser häufig vorgenommenen Reduktion seines Gesamtwerkes auf "Die Blechtrommel" immer wieder Anstoß genommen. An weiteren großen oder viel diskutierten Werken des Autors mangelt es schließlich nicht: Die Vollendung seiner Danziger Trilogie - mit "Katz und Maus" und "Hundejahre" -, "Der Butt", oder sein halb-autobiografisches Werk "Beim Häuten der Zwiebel", das 2006 wegen Grass’ Bekenntnis, Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein, für Schlagzeilen sorgte. Doch trotz allem: Der Name Günter Grass bleibt untrennbar verbunden mit seinem ersten Werk, mit der Blechtrommel und mit Oskar Matzerath.

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Der deutsche Schriftsteller Günter Grass (M.) zeigt am 10.12.1999 bei einer feierlichen Zeremonie im Konzerthaus in Stockholm die Nobelpreis-Medaille, nachdem er zuvor den Nobelpreis für Literatur erhalten hatte. © picture-alliance / dpa Foto: epa Pressensbild Ekstromer

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Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 21.11.2019 | 19:30 Uhr

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