Als die Flut Wangerooge zerriss
"Die Flut des Meeres erreichte den 1. Januar eine allesübersteigende Höhe. Von 70 Wohnungen wurden 20 zerstört; viele andere, vom Wasser unterwühlt, stürzten ein. (...) Auf dem Kirchhofe wurden die Särge herausgespült und die Leichen von den brausenden Wogen in die Tiefen des Meeres hinabgerissen." Anschaulich beschreibt der "Jahreskalender 1855" die dramatischen Ereignisse der Neujahrsflut auf der Nordseeinsel Wangerooge. Gerade noch rechtzeitig tritt die Ebbe ein und verhindert, dass es Tote gibt: "Hätte die Fluth noch eine Stunde länger gedauert, (…) die meisten Menschen würden wohl ihr schauerliches Grab in den Wogen gefunden haben", so der Inselpfarrer Theodor Schmedes in seiner Kirchenchronik.
Die meisten Bewohner verlassen die Insel
Zwar gibt es keine Toten zu beklagen, dennoch hat die Flut verheerende Folgen: Sie hat nicht nur viele Bewohner obdachlos gemacht, sondern die Insel in drei Teile zerrissen. Viele Brunnen sind durch das Meerwasser verseucht. Auch der Badebetrieb, der sich seit 1804 als vielversprechende Einnahmequelle etabliert hat, steht vor dem Aus. Eine aus Oldenburg angereiste Regierungskommission sieht kaum Hoffnung für einen Wiederaufbau: Sie fordert die Insulaner auf, die Insel zu verlassen und auf das Festland umzusiedeln.
Auch die Badeanstalt soll aufgelöst werden, so der Regierungsbeschluss. Ein Teil der Badekarren wird an Bewohner der Nachbarinsel Spiekeroog verkauft. Den Umsiedlern aufs Festland stellt die Regierung finanzielle Mittel bereit. 233 der 342 Insulaner folgen der Aufforderung, ein großer Teil von ihnen lässt sich bei Varel am Jadebusen nieder und gründet dort die Siedlung Neu-Wangerooge. Mit den Insulanern zieht auch das Wangerooger Inselfriesisch aufs Festland - wo es sich auf Dauer jedoch ebenso wenig hält wie auf der Insel selbst. Seit 1950 gilt die Inselsprache als ausgestorben. Auch die meisten Umsiedler bleiben nicht lange in Neu-Wangerooge - obwohl die Siedlungshäuser eigens im Baustil der Insel erbaut wurden. Viele von ihnen ziehen weiter in das frisch gegründete Wilhelmshaven.
Um den Leuchtturm entsteht ein neues Inseldorf
Die wenigen Bewohner, die auf Wangerooge bleiben, siedeln in den Osten der Insel um, wo 1856 auch der neue Leuchtturm in Betrieb genommen wird, der zugleich das erste Gebäude des neuen Inselorts ist. Das alte Inseldorf wird aufgegeben. An Alt-Wangergooge im Westen erinnert nur noch der alte Wehrturm, der seit der Flut frei am Strand steht. Er wird 1914 abgerissen. Heute liegt das Inseldorf in der Mitte Wangerooges: Im Verlauf der Jahrzehnte verlagerte sich die Insel unter dem Einfluss des Meeres immer weiter nach Osten. Bis heute nagt die Flut regelmäßig an der Insel. Zuletzt richteten mehrere Sturmfluten im Januar 2015 große Schäden an.
Norderneys Westen verliert seine Dünen
Auch auf Norderney wütet die Flut: Dort gehen große Teile der Dünenzone im Westen und Nordwesten verloren, die die Insel bislang vor den Fluten geschützt hatte. Nur noch eine schmale Dünenreihe trennt den Strand vom Inseldorf und der Badeanstalt. Ein künstliches Bauwerk wird erforderlich, um die Insel vor künftigen Sturmfluten zu schützen. So entsteht ab dem Jahr 1858 am Westkopf Norderneys eine massive Befestigungsanlage: das erste Dünendeckwerk an der deutschen Nordseeküste.
Elbnahe Gebiete Hamburgs werden überflutet
Nicht nur auf den ostfriesischen Inseln, sondern auch im fernen Hamburg richtet die Flut schwere Schäden an. Mehrere Deiche brechen unter dem Druck der Fluten, darunter in den Vierlanden, in Bergedorf, im Alten Land und in Moorburg.
In Wilhelmsburg brechen die Deiche gar an neun Stellen, sodass die tief gelegene Elbinsel völlig überflutet wird. Vier Menschen sterben, darunter zwei Kinder. Ein an die wohlhabenden Hamburger Bürger gerichteter Spendenaufruf schildert die verzweifelte Lage der Betroffenen: "Die Bewohner haben in vielen Fällen nur das nackte Leben gerettet. (…) Der Hausrath und besonders die Vorräte aller Art (…) sind entweder von den Fluthen verschlungen oder doch gänzlich unbrauchbar gemacht." Auch vor der Hamburger Innenstadt macht das Wasser nicht halt: Die Alsterschleusen werden überflutet, die Straßen im Stadtzentrum und in der damaligen Vorstadt St. Georg überschwemmt.
Stadt baut neue Deiche
Da bereits 1825 eine schwere Sturmflut die Stadt heimgesucht hat - damals waren an der gesamten Nordseeküste 789 Menschen gestorben, darunter 142 in den Elbmarschen - lässt die Stadt in den Jahren nach 1855 die Deiche erneuern und deutlich erhöhen. Sie wachsen auf Höhen zwischen 5,60 und 5,80 Meter. Mehr als 100 Jahre scheinen sie sicheren Schutz zu bieten. Stets bleiben die Pegelstände weit unter denen von 1855. Die Menschen an der Nordsee und in Hamburg wiegen sich in Sicherheit - ein tödlicher Irrglaube, der Jahrzehnte später mehr als 300 Menschen das Leben kostet. Die maroden, viel zu niedrigen Deiche brechen erneut unter der Gewalt der Fluten, als das Wasser 107 Jahre später wiederkommt - bei der großen Sturmflut in der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962.
Danach ließ die Stadt die Deiche modernisieren und weiter erhöhen. Ab 1990 nahm sie erneut Modernisierungen und Erhöhungen vor, die mittlerweile fast abgeschlossen sind. Mit ihnen wurden die Deiche auf Höhen zwischen 7,50 und 9,25 Meter, je nach möglichem Wellenauflauf, erhöht.