Das Ende der "Todesautomaten" in der DDR
Am 30. November 1984 baut die DDR die letzte Selbstschussanlage ab. Seit 1971 sicherten die Splitterminen vom Typ "SM 70" die innerdeutsche Grenze. Mindestens neun Flüchtlinge starben durch die "Todesautomaten".
Es ist ein Ende auf Raten: Mehr als ein Jahr dauert der Abbau der "Todesautomaten", wie sie im Westen genannt werden. Am 30. November 1984 montiert die DDR die letzte Selbstschussanlage an der innerdeutschen Grenze ab, nördlich der Autobahn Hamburg-Berlin bei Gudow an der heutigen Landesgrenze von Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern. SED-Generalsekretär Erich Honecker hatte am 5. Oktober 1983 öffentlich den vollständigen Abbau der rund 60.000 Selbstschussanlagen angekündigt. Bis Ende des Jahres 1984 sollen sie entfernt sein.
Die DDR-Führung setzt mehr als eine Dekade lang auf die Selbstschussanlagen. Im Fachjargon heißt die Vorrichtung SM 70. Die Abkürzung SM steht für Splittermine, die Zahl 70 für das Einführungsjahr 1970. Ziel ist, "Grenzdurchbrüche" in die Bundesrepublik zu unterbinden. Die "Unverletzlichkeit der Grenze" stellt für die DDR-Führung eine vorrangige politische Aufgabe dar. Es gilt die Überzeugung, dass jeder erfolgreiche Fluchtversuch politischen Schaden für die DDR bringe.
"SM 70" an Rehen erprobt
Im Oktober 1970 gibt der Chef der Grenztruppen den Befehl, die Splittermine zu erproben. Diese "versuchsweise Einführung" erfolgt auf einer Länge von etwa 15 Kilometern. Als Versuchsobjekt dienen Tiere. Die Erprobung verläuft aus Sicht der DDR zufriedenstellend: Das von Splitterminen beschossene Wild erleidet zu 75 Prozent tödliche Verletzungen. Das Ministerium für Nationale Verteidigung schlussfolgert: Der mit "SM 70" ausgebaute Sperrzaun habe sich "als wirksame Grenzsicherungsanlage erwiesen".
Keine Splitterminen in Ortschaften aufgestellt
Besonders ausgebildete Pionier-Einheiten beginnen 1971, entlang der Grenze die neue Sperranlage 501 zu errichten - einen drei Meter hohen Streckmetallgitter-Zaun, an dem in drei verschiedenen Höhen Selbstschussanlagen angebracht werden. "Die Splitterminen wurden dort installiert, wo der Grenzverlauf für die Truppen unübersichtlich war oder dort, wo die Mannschaftsstärke nicht ausreichte, um einen bestimmten Grenzabschnitt zu sichern", erklärt Frank Stucke von der Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn im Gespräch mit NDR.de. Dabei habe es folgenden Grundsatz gegeben: "Die Splitterminen wurden niemals in Ortschaften oder in deren Nähe aufgestellt."
Honecker trifft die Entscheidung
Den Tod von Flüchtlingen durch die Selbstschussanlagen nimmt die DDR-Führung in Kauf. "Die kinetische Energie der Splittermine reicht aus, um mit Sicherheit Personen unschädlich zu machen, die versuchen, den Sperrbereich der "SM 70" zu durchbrechen", heißt es in einem Schriftstück des Ministeriums für Nationale Verteidigung vom 17. August 1971. Aber es gibt auch Bedenken gegen die Splitterminen. Im Führungsgremium des DDR-Verteidigungsministeriums kommt im Dezember 1971 die Frage auf, ob die Minen nicht eine politisch ungünstige Reaktion des Westens hervorrufen können - und ob es unter diesem Gesichtspunkt nicht vorteilhafter sei, Minen mit einer verringerten Wirkung zu entwickeln und einzusetzen.Verteidigungsminister Heinz Hoffmann schlägt vor, in dieser Frage Erich Honecker als Ersten Sekretär des SED-Zentralkomitees entscheiden zu lassen. Anfang Januar 1972 teilt Hoffmann dem Führungskreis die Antwort Honeckers mit: Die Splittermine soll wie gehabt aufgebaut werden.
100.000 DDR-Mark für einen Kilometer
Bis 1977 ist die Splittermine auf rund 270 Kilometer Länge montiert, 1983 erreichen die Sperranlagen mit den Selbstschussapparaten eine Gesamtlänge von mehr als 400 Kilometern. Die innerdeutsche Grenze hat insgesamt eine Länge von knapp 1.400 Kilometern. Die Installation der Splitterminen kostet nach DDR-Angaben je Kilometer Staatsgrenze etwa 100.000 DDR-Mark. An der Grenze rund um West-Berlin gibt es keine Selbstschussanlagen.
Wie funktioniert eine Selbstschussanlage?
Die Splitterminen sind stets auf DDR-Gebiet am Grenzzaun angebracht. Der Minenkörper besteht aus einem dünnwandigen Aluminium-Blechkegel, gefüllt mit dem Sprengstoff TNT und mindestens 100 Stahlgeschossen, die einen Durchmesser von gut vier Millimeter haben. An jeder "SM 70" sind drei horizontale Drähte angebracht. Der obere und der untere sollen verhindern, dass Vögel den Mechanismus auslösen. Wird der mittlere Draht beim Versuch, sich dem Zaun zu nähern oder ihn zu übersteigen, berührt oder durchtrennt, schließt sich ein Stromkreis: Es kommt zur Explosion, die Stahlsplitter werden mit großer Wucht verschossen. Zugleich alarmiert ein Signal die Grenztruppen. Die Geschosse können bis zu 120 Meter weit fliegen. Auch Verletzungen an Armen oder Beinen können tödlich sein, da die Opfer verbluten.
DDR leugnet Existenz von Selbstschussanlagen
Die Splittermine unterliegt in der DDR großer Geheimhaltung. Im Westen nimmt man dennoch Notiz von den Selbstschussanlagen. Im Oktober 1972 berichtet das ZDF ausführlich über die "Todesautomaten an der Zonengrenze". Die DDR bestreitet das Bestehen der "SM 70" aber weiterhin. Im selben Monat mokiert sich SED-Chef Erich Honecker vor 4.500 Mitgliedern der Freien Deutschen Jugend, der Westen empöre sich über "sogenannte Todesmaschinen, die es gar nicht gibt".
Gartenschläger: Der "Todesautomat-Beschaffer"
Es ist dann ein ehemaliger DDR-Bürger im Westen, der den Beweis für die Existenz der Selbstschussanlagen vorlegt: Michael Gartenschläger. Im November 1975 liest er im Nachrichtenmagazin "Spiegel" einen Bericht über den Aufbau und die Funktionsweise der DDR-Grenzanlagen. Vor allem ein Satz bleibt bei ihm hängen: Wie die Selbstschussautomaten im einzelnen funktionieren, "weiß der Bundesgrenzschutz bis heute nicht genau". Gartenschläger, der zu der damaligen Zeit in Hamburg lebt, fasst einen Beschluss: "Wenn die so ein Ding brauchen und nicht haben, wirst du denen eben so ein Ding besorgen."
Bei Nacht gelingt der erste Coup
Der 32-Jährige schraubt in der Nacht zum 1. April 1976 an der innerdeutschen Grenze eine Selbstschussanlage ab - in einem unübersichtlichen Terrain bei Büchen, zwischen dem westdeutschen Bröthen und dem ostdeutschen Wendisch Lieps. Die entwendete "SM 70" übergibt er dem "Spiegel", der das Gerät im Labor analysieren lässt. Das Nachrichtenmagazin berichtet am 12. April 1976 ausführlich über den "SM-70-Beschaffer". In der Nacht vom 23. auf den 24. April baut Gartenschläger eine zweite Splittermine ab - nur 200 Meter vom ersten Tatort entfernt. Dieses Exemplar verkauft er an das Museum Checkpoint Charlie in West-Berlin. Der große Aufschrei auf höchster politischer Ebene in der Bundesrepublik bleibt allerdings aus. Es ist die Zeit der Entspannungspolitik.
Die DDR kontert mit Blick auf die Medienberichte über die Minen vom Typ SM-70, es handele sich nur um Attrappen. Doch für die DDR-Führung, die um internationale Anerkennung buhlt, ist die Tat Gartenschlägers eine der größten außenpolitischen Blamagen. Stasi-Chef Erich Mielke soll persönlich angeordnet haben, den Querulanten bei einem erneuten Versuch "unbedingt festzunehmen".
Die Stasi-Männer sind schon da
In der Tat: Gartenschläger plant einen weiteren Coup. Die dritte abmontierte Splittermine will er vor die Ständige Vertretung der DDR in Bonn legen. Doch ein Stasi-Kommando lauert ihm in der Nacht zum 1. Mai 1976 an der Grenze auf. Die vier Männer geben 120 Schüsse ab. Gartenschläger stirbt. Ein Augenzeuge berichtet, die Stasi-Männer hätten ohne Warnung das Feuer eröffnet. Die Genossen geben nach der Wiedervereinigung vor Gericht an, sie hätten aus Notwehr gehandelt. Michael Gartenschläger wird auf einem Schweriner Friedhof beerdigt, ohne dass die Verwandten informiert werden. Auf dem Totenschein Gartenschlägers steht: Wasserleiche aus der Elbe.
Warum baut die DDR die "Todesminen" ab?
Der Abbau der Selbstschussanlagen Anfang der 80er-Jahre erfolgt zu einer Zeit, als die DDR vor dem finanziellen Ruin steht und von Krediten aus dem Westen abhängig ist. Ende Juni 1983 gewährt die Bundesrepublik der DDR eine Bundesbürgschaft für einen Kredit in Höhe von einer Milliarde D-Mark. Einige Monate später, im Oktober 1983, verkündet dann Honecker den Abbau der Selbstschussanlagen.
Ein Junktim zwischen Milliarden-Kredit und dem Aus für die Splitterminen habe es aber nicht gegeben, wie Hans-Hermann Hertle vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam meint. Franz Josef Strauß, der die Vergabe des Kredites eingefädelt hatte, habe nie davon gesprochen, dass die Bundesregierung den Abbau der Splitterminen zur Bedingung gemacht habe. "Wenn es so gewesen wäre, hätte sich Strauß ja mit dem Erfolg geschmückt", sagte Hertle im Gespräch mit NDR.de.
Bedacht auf den internationalen Ruf
Hertle verweist stattdessen auf einen anderen Zusammenhang. Die DDR sei zu dem Zeitpunkt sehr auf ihren internationalen Ruf bedacht gewesen, eben wegen der akuten Finanznot. Deshalb habe die DDR Zugeständnisse in Sachen Splittermine gemacht. Zumal Anfang Dezember 1983 für den ostdeutschen Staat eine UN-Konvention in Kraft trat, die die Anwendung von Minen gegen die Zivilbevölkerung unter allen Umständen verbietet. Für die DDR habe die Gefahr bestanden, auf internationalem Parkett weiter an Glaubwürdigkeit zu verlieren, so der Zeithistoriker.
Zahl der Opfer ist ungewiss
Die DDR vertuschte die Spuren von Fluchtversuchen, so gut es ging. Eine genaue Zahl über die DDR-Bürger, die bis Ende 1984 durch Selbstschussanlagen ums Leben kamen, gibt es nicht. Nachgewiesen sind nach Angaben der Gedenkstätte Deutsche Teilung in Marienborn neun Fälle. Experten vermuten, dass die tatsächliche Zahl wesentlich höher liegt. Auch über die Gesamtzahl der Todesopfer an der Grenze von DDR und Bundesrepublik gibt es nur Schätzungen. Meist ist die Rede von mehr als 900 Toten.
Die Berliner Staatsanwaltschaft als zentrale Behörde zur Verfolgung von DDR-Regierungskriminalität ermittelt insgesamt 270 nachweisbare Todesfälle an der innerdeutschen Grenze. Davon entfallen 237 auf Schusswaffen-Gebrauch oder sonstige Gewaltakte durch Angehörige der DDR-Grenztruppen und 33 auf Detonationen von Erd- und Splitterminen.