VIDEO: Die Standortentscheidung Gorleben (9 Min)

1984: Als der erste Atommülltransport nach Gorleben kam

Stand: 08.10.2024 10:30 Uhr

Seit Jahrzehnten ist das niedersächsische Gorleben ein Symbol für den Streit um die Atomkraft. Am 8. Oktober 1984 erreichte der erste Atommüll-Transport den kleinen Ort im Wendland - heimlich und auf Schleichwegen.

Um 8.42 Uhr am Morgen jenes Oktobertages verlassen vier Tieflader das AKW Stade. Beladen mit 210 Zweihundert-Liter-Fässern macht sich der Konvoi mit schwach radioaktivem Müll auf den Weg ins niedersächsische Zwischenlager Gorleben, in dem die Lagerhallen noch leer stehen.

Zu spät erfahren die Atomkraftgegner von dem Transport. Mit Telefonketten versucht die Bewegung ihre Anhänger zu aktivieren. Doch in Zeiten ohne Mobiltelefone und Internet dauert das viel zu lange. Zudem fährt der Transport nicht wie erwartet über die Bundesstraße L 216 durch das Wendland, sondern bewegt sich in Richtung Uelzen und nähert sich von Süden her Gorleben.

Großaufgebot aus Polizei und BGS

Ein Großaufgebot von Polizei und Bundesgrenzschutz sichert den Transport. Polizeihubschrauber verschaffen sich aus der Luft einen Überblick, während 50 Mannschaftswagen mit etwa 2.000 Beamten die Straßen absichern. Auf der Strecke zwischen Gedelitz und Gorleben rollen Sicherheitsbeamte über mehrere Kilometer NATO-Draht am Straßenrand aus. Erst am frühen Abend können AKW-Gegner den Transport zeitweise aufhalten - allerdings erst wenige Hundert Meter vor dem Zwischenlager. Die erste Einlagerung ins Fasslager Gorleben verläuft wider Erwarten reibungslos.

Weitere Informationen
Das Zwischenlager Gorleben in der Bauphase: ein Betonrohbau mit einem Kran an der linken Seite, ein Lkw und mehrere Baustellenfahrzeuge, sowie ein Berg Kies im Vordergrund, dazwischen ein Bauarbeiter. Undatierte Aufnahme.

Als in Gorleben die Bagger anrollten

Am 26. Januar 1982 begann der Bau des Atommüll-Zwischenlagers in Gorleben - es folgten jahrzehntelange Proteste im Wendland. mehr

AKW-Gegner: Einlagerung in Gorleben illegal

Als im Frühjahr 1984 bekannt wird, dass es Pläne für den ersten Transport gibt, sind die Atomgegner alarmiert. Sie verüben zahlreiche Anschläge vor allem auf die Bahnlinie nach Gorleben. Zudem kommt es im Vorfeld der Inbetriebnahme des Fasslagers zu gerichtlichen Auseinandersetzungen. Vor dem Verwaltungsgericht Lüneburg stellen die Protestler einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die Ablagerung. Rainer Geulen, Anwalt mehrerer Bürger aus Lüchow-Dannenberg, spricht von "vollendeten Tatsachen", die die Betreiber des Zwischenlagers mit dem Transport geschaffen hätten.

Mehr Hindernisse für zweiten Transport

Am Abend des 8. Oktobers verbreitet sich das Gerücht, dass am Folgetag erneut ein Transport von Stade nach Gorleben stattfinden soll. Nachdem die AKW-Gegner am Montag auf dem falschen Fuß erwischt worden sind, bereiten sie nun bereits in der Nacht zum Dienstag zahlreiche Straßenblockaden mit quergestellten Fahrzeugen, Baumstämmen und brennenden Strohballen vor.

Am 9. Oktober 1984 um 9.45 Uhr starten in Stade Sattelschlepper mit 296 Fässern, die auf zehn Container verteilt sind. Rund 40 Mannschaftswagen der Polizei sichern den Transport, der an diesem Tag deutlich mehr Hindernisse überwinden muss. Dennoch erreicht der Konvoi am Abend das Zwischenlager. Ein Grund für die kurz aufeinanderfolgenden Transporte ist eine anstehende Inspektion des TÜV im AKW Stade, für die bis Mitte Oktober 1984 das dortige Lager leer geräumt sein muss.

Transnuklearskandal: Fässer falsch deklariert

Blick in eine Lagerkammer des unterirdischen, atomaren Zwischenlagers in Gorleben im Mai 1988. In den gelben Fässern wird schwach radioaktiver Abfall aufbewahrt. © picture-alliance / dpa Foto: Carsten Rehder
Fässer mit Atommüll sind im Zwischenlager Gorleben gestapelt.

Allerdings bleiben die Fässer kürzer im Zwischenlager als gedacht: Ende der 1980er-Jahre wird bekannt, dass die Hanauer Firma Transnuklear falsch deklarierte Fässer mit Atommüll aus dem belgischen Atomforschungsstandort Mol verbreitet hat, die stärker strahlenden Abfall enthalten als angegeben. Vermutlich rund 300 Fässer aus dem sogenannten Transnuklearskandal sind auch in Gorleben gelandet.

Auch viele der übrigen Fässer weisen Korrosionsschäden und Bläherscheinungen durch Gasentwicklung auf, zudem fehlen bei einer Vielzahl genaue Angaben zu Herkunft und Inhalt. 1.296 Fässer werden in den 1990er-Jahren wieder aus dem Lager entfernt, andernorts ausgebessert und eingelagert. Lediglich ein Bruchteil wird wieder nach Gorleben zurückgebracht, darunter 32 der aus Belgien stammenden Fässer.

Die Endlagersuche und die Gorleben-Frage

Wenige Tage nach dem ersten Atommülltransport, am 12. Oktober 1984, lehnt das Verwaltungsgericht Lüneburg den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die Ablagerung radioaktiver Stoffe in Gorleben ab. Doch der Kampf gegen das Zwischenlager geht weiter. Er äußerst sich vor allem in den massiven Protesten gegen die Castor-Transporte mit hochradioaktivem Material, die ab 1995 durchgeführt werden. Etliche Male kommt es zu massiven Auseinandersetzungen zwischen Atomkraftgegnern und der Polizei.

Weitere Informationen
.
9 Min

Kernkraft: Die Lüge vom sicheren Endlager

Kritischer Bericht aus 2009 über atomare Endlager und die politische Tradition der CDU in der Haltung zur Kernkraft. 9 Min

Ab 2013 suchen die Behörden nach jahrelanger Konzentration auf Gorleben bundesweit nach einem geeigneten atomaren Endlager. Auch wenn der Salzstock seitdem nicht mehr erkundet wird, die Schutzmauer abgebaut und die Pilot-Konditionierungsanlage gestoppt sind und viele Politiker den Standort Gorleben als politisch verbrannt beziehungsweise ungeeignet betrachten: Ganz ausgeschlossen ist es lange Zeit nicht, dass Gorleben doch noch zum Endlager wird. Erst im September 2020 wird der Salzstock endgültig aus dem Suchverfahren für ein Endlager ausgeschlossen. Das Gebiet sei "nicht günstig". Im September 2021 beauftragt das Bundesumweltministerium die Bundesgesellschaft für Endlagerung, das Bergwerk zu schließen und zurückzubauen.

Weitere Informationen
Ein "Atomkraft? Nein Danke!" Aufkleber auf einem Holzschild, neben einem Symboll-Fass für radioaktiven Müll. © Screenshot
2 Min

Gorleben: Umweltminister Meyer für zügigen Rückbau

Spätestens Anfang 2025 soll er beginnen. Die Stilllegungsgenehmigung soll bis Jahresende erteilt werden. 2 Min

Bauern und große Teile der Bevoelkerung im Wendland demonstrieren am 25.03.1979 gegen Kernkraft und das Vorhaben, in Gorleben ein atomares Endlager zu errichten. © picture alliance / Klaus Rose Foto: Klaus Rose

1979: Protest mit dem Gorleben-Treck nach Hannover

350 Landwirte machen sich 1979 mit Traktoren auf vom Wendland nach Hannover. Am 31. März sind es 100.000 Menschen, die dort gegen Atomkraft demonstrieren. mehr

Protest gegen das Zwischenlager Gorleben im September 2007. © dpa

Gorleben - Der Aufstand der Bauern

Der Widerstand ortsansässiger Landwirte hat sich über Jahrzehnte zu einem langlebigen Protest gegen die Atompolitik entwickelt. mehr

Niedersachsens Ministerpräsident Ernst Albrecht zeigt 1977 auf einer Landkarte, wo Gorleben liegt. © dpa Foto: Wolfgang Weihs

Gorleben und der Atommüll: Eine Chronik

Von den Plänen 1977 über jahrzehntelangen Protest bis zur Verfüllung des Salzstocks und dem Ende aller Endlager-Pläne. mehr

Dieses Thema im Programm:

Hallo Niedersachsen | 07.10.2024 | 19:30 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Gorleben

Bundesrepublik Deutschland

Mehr Geschichte

Annemarie und Walter Kutter © Annemarie und Walter Kutter privat Foto: privat

"Eine Jahrhundertliebe": Das Geheimnis einer langen Liebe

Im NDR Fernsehen werden zwei Sendungen über die Liebe älterer Menschen gezeigt. Sie laufen am 22. und 29. Dezember. mehr

Norddeutsche Geschichte