Vor 40 Jahren: Die "Hitler-Tagebücher" und der "Stern"-Skandal
Vor 40 Jahren erscheint der "Stern" mit ersten Auszügen aus Hitlers vermeintlichen Tagebüchern. Sie sollen die private Seite des NS-Diktators zeigen. Doch das Blatt war einem Fälscher und einem allzu umtriebigen Reporter aufgesessen.
"F.H.! Was soll das denn heißen? Führer Hitler? Führers Hund? Führer Hauptquartier? Fritze Hitler hat er ja wohl nicht geheißen!" Für die Dialoge in seinem Film "Schtonk!" konnte Regisseur Helmut Dietl 1991 aus dem Vollen schöpfen: Kaum ein Medien-Skandal bot derart viel komödiantisches Potenzial wie die gefälschten Hitler-Tagebücher, die das Hamburger Nachrichtenmagazin "Stern" 1983 veröffentlicht hatte. Da waren nicht nur die falschen Initialen auf den vermeintlichen Tagebüchern, auch die übrigen Zutaten stimmten: Ein Redakteur mit "Spürnase" und fatalem Hang zum Nazi-Kult, ein schillernder Fälscher und eine Verlagsleitung, die so sehr an den ganz großen Coup glauben wollte, dass sie die wohl größte Lachnummer in der bundesdeutschen Mediengeschichte produzierte.
"Hitler-Tagebücher": Gier auf vielen Seiten
Dass auch ganz private Gier die Beteiligten antrieb, schildert Michael Seufert in seinem 2008 erschienenen Buch "Der Skandal um die Hitler-Tagebücher". Seufert, nach dem Skandal von "Stern"-Gründer Henri Nannen mit der Aufklärung betraut, hat die abenteuerliche Geschichte 25 Jahre danach rekonstruiert: "Beim Geheimprojekt Hitler-Tagebücher steht im Verlag Gruner + Jahr von Anfang an die Welt auf dem Kopf. Und bei den Beteiligten geht es um Karrieren, Macht und vor allem um viel Geld."
Leugnung des Holocaust in den "Tagebüchern"
Doch nicht nur Macht- und Geltungsinteressen hatten Anfang der 1980er-Jahre eine Rolle gespielt, sondern auch historisch-politische. Einem Team des NDR ist es 40 Jahre nach dem "Stern"-Desaster gelungen, die "Tagebücher" zu digitalisieren und hat sie mithilfe von Historikern ausgewertet und kommentiert veröffentlicht. Die erschreckende Erkenntnis: Die Schriften leugnen an etlichen Stellen den Holocaust. Und der Fälscher Konrad Kujau pflegte damals enge Kontakte zur Neonazi-Szene und legte ein ideologisches Denken an den Tag, das bislang kaum bekannt war.
Den "Tagebüchern" auf der Spur
Doch wie kam es überhaupt dazu, dass ein renommiertes Blatt den Fake veröffentlichen wollte? Die Details sind ebenso unglaublich wie streckenweise unfreiwillig komisch: Der "Stern"-Reporter Gerd Heidemann beschäftigte sich seit Beginn der 70er-Jahre mit der NS-Zeit. Über befreundete Sammler kommt er 1980 in Kontakt mit dem Fälscher Konrad Kujau, der gegenüber Heidemann unter dem Pseudonym Konrad Fischer auftritt. Der berichtet Heidemann von den Hitler-Tagebüchern: In den letzten Kriegstagen seien persönliche Aufzeichnungen Adolf Hitlers bei einem Flugzeugabsturz verschollen. Doch die Fracht sei an der Absturzstelle auf dem Gebiet der DDR aufgetaucht, er könne den Schmuggel über die innerdeutsche Grenze mithilfe von Verwandten organisieren - immerhin sei sein Schwager Museumsdirektor, sein Bruder NVA-Offizier im Osten.
Verlagsleitung stimmt dem Geheimprojekt zu
Heidemann weiht den damaligen Leiter des Ressorts Zeitgeschichte beim "Stern", Dr. Thomas Walde, in die vermeintliche Sensations-Story ein. Gemeinsam umgehen beide die Chefredaktion des Magazins und wenden sich direkt an die Verlagsleitung, denn sie benötigen viel Geld, um die Tagebücher zu beschaffen. Die lässt sich von den beiden Journalisten überzeugen: Heidemann und Walde erhalten grünes Licht für ihr Geheimprojekt.
Glaube an die Sensation überdeckt Zweifel
Fast drei Jahre lang fließen insgesamt 9,34 Millionen D-Mark an Heidemann und Kujau. Zahlreiche Hinweise auf eine Fälschung ignoriert nicht nur der angebliche Top-Rechercheur des "Stern", der inzwischen wohl schon lange eigene finanzielle Interessen verfolgt. Auch Ressortleiter Walde, Chefredaktion und Verlagsleitung verschließen Augen und Ohren, als immer neue Hinweise von Zeitzeugen und Experten auftauchen, dass sie einem Betrüger aufsitzen könnten.
Ein ehemaliger Angehöriger der "Leibstandarte Adolf Hitler" zum Beispiel erinnert sich an einige Fakten ganz anders. Aus einschlägigen Fachkreisen wird vor Fälschungen aus dubiosen Quellen gewarnt. Auch dass aus den ursprünglich angekündigten 27 Tagebüchern, die Hitler verfasst haben soll, inzwischen gut 60 geworden sind und ihr Preis kontinuierlich steigt, lässt beim "Stern" niemanden stutzen.
Kontrollen werden vermieden
Fatal ist der Vertrag der beiden Journalisten mit der Verlagsleitung: Ihnen wird darin nicht nur eine Gewinnbeteiligung bei Veröffentlichung und Rechteverkauf ins Ausland garantiert. Zusätzlich sichert der Vertrag ihnen das exklusive Recht, die Dokumente auszuwerten, und befreit Reporter Heidemann darüber hinaus von der Pflicht, seine Quelle offenzulegen. Alle redaktionellen Kontrollmechanismen sind damit ausgeschaltet, denn Verlagsleitung und Reporter wollen fest an den ganz großen Sensationsfund - und mit ihm an das ganz große Geschäft - glauben.
BKA informiert schon im März 1983 über Fälschungen
So bleibt auch ein Untersuchungsergebnis des Bundeskriminalamts (BKA) auf halbem Weg stecken. 1982 hatten "Stern"-Redakteure dem Bundesarchiv in Koblenz einige angebliche Originalschriften von Führungspersonal des NS-Regimes zur eventuellen späteren Überlassung angeboten. Das Archiv wiederum bat das Landeskriminalamt von Rheinland-Pfalz und das Bundeskriminalamt in Wiesbaden um Amtshilfe, denn für die Übernahme der Unterlagen war eine Echtheitsprüfung geboten. Nach der Überprüfung einiger Beispiel-Dokumente steht für die Experten des BKA fest: Mindestens die Hälfte der handschriftlichen Notizen waren auf Nachkriegspapier geschrieben worden - und also Fälschungen. Bei den weiteren Unterlagen seien noch Untersuchungen von Materialproben notwendig. Heidemann wird vom BKA Ende März 1983 über dieses Ergebnis informiert - doch der "Stern" bleibt bei seinem Veröffentlichungsplan.
Von der "Stern"-Stunde zur Katastrophe
Am 25. April 1983 ist es soweit: Auf einer internationalen Pressekonferenz im Verlagshaus kündigt der "Stern" mit großem Getöse die Veröffentlichung der vermeintlichen Hitler-Tagebücher an, die als Serie erscheinen soll. Auf der PK, zu der rund zwei Dutzend Fernsehteams und an die 200 Reporter erschienen sind, präsentiert sich Heidemann mit den schwarzen Kladden. Drei Tage später erscheint die erste Folge mit Auszügen aus Hitlers angeblichen Aufzeichnungen - und die Chefredaktion verkündet in dem Heft, nun müsse die Geschichte umgeschrieben werden. Doch schon an diesem Tag werden ernsthafte Bedenken laut. Namhafte Experten bezweifeln vom ersten Moment an die Echtheit der Quellen.
Kujau schreibt aus Fachbüchern ab
Nach nur zwölf Tagen ist der Spuk vorbei: Bundesarchiv und Bundeskriminalamt kommen mithilfe chemischer Analysen und historischer Recherche übereinstimmend zu dem Ergebnis: Die Tagebücher sind eine Fälschung - und zudem eine recht plumpe. Seitenweise hatte Fälscher Kujau aus veröffentlichten Hitler-Reden und Fachbüchern abgekupfert, das Ganze mit banalen Anmerkungen aus dem täglichen Leben angereichert - und wie heute bekannt ist, auch geschichtsrevisionistisches Gedankengut mit einfließen lassen. Verlagsleitung und Chefredaktion müssen zurückrudern, "Stern"-Gründer Henri Nannen entschuldigt sich bei den Lesern.
Der Skandal um Hitlers "Tagebücher" im Panorama-Archiv
Die Verlagsleitung hatte es nicht sehen wollen: Einwände wurden abgetan, selbst die im Film "Schtonk" zum Witz verarbeiteten falschen Initialen auf den Tagebüchern ließen niemanden beim "Stern" am vermeintlichen Sensationsfund zweifeln. Über den Fehler habe Hitler selbst sich damals aufgeregt, soll Chefredakteur Felix Schmidt auf die berechtigte Nachfrage nach dem "F." bei der Pressekonferenz geantwortet haben.
Haftstrafen für Heidemann und Kujau
Der Imageschaden für das vormalige Renommier-Blatt ist enorm: Die Auflage bricht ein, die Glaubwürdigkeit ist dahin. In der Folge geben sich die Chefredakteure beim "Stern" die Klinke in die Hand. Kujau und Heidemann werden zu mehrjährigen Haftstrafen wegen Betrugs und Fälschung verurteilt. Fälscher Kujau nutzt seine Popularität nach dem Gefängnis, tingelt durch Talkshows und verkauft die "Tagebuch"-Aktion als "großen Spaß".
Bis heute gilt der Skandal um die "Hitler-Tagebücher" als Paradebeispiel für die möglichen Folgen, die eine zu enge Vermischung von wirtschaftlichen und redaktionellen Interessen haben kann. Und spätestens seit den neusten NDR Recherchen ist auch klar, welche Gefahr lauert, wenn aus eben diesen Interessen Kritiker und Skeptiker kein Gehör finden - und von "Spaß" keine Rede sein kann.