Bildschöne Bücher: Zeitreise an die Strände der späten 1950er-Jahre
1959 reiste der Fotograf Paolo di Paolo die italienischen Küsten entlang, um mit seiner Kamera festzuhalten, wie seine Landsleute Urlaub machen. Die Fotos sind nun im Band "La lunga strada di sabbia" zu bestaunen.
Bis 1966 zählte Paolo di Paolo zu den bekanntesten Fotografen Italiens. Dann geriet sein Werk in Vergessenheit und es dauerte mehr als ein halbes Jahrhundert, bis die Aufnahmen wiederentdeckt wurden. Nun hat seine Tochter Silvia ein Buch mit Fotos herausgegeben, die ihr Vater 1959 für eine Fortsetzungsreportage in der Wochenzeitung "Tempo" gemacht hat.
Mit einem Luxus-Sportwagen durch verträumte Dörfer
Vier Jungs, vielleicht acht oder neun Jahre alt, lugen durchs Beifahrerfenster in Paolo di Paolos Wagen. Einer der Knirpse trägt ein löcheriges Unterhemd. Seine Fingernägel sind schwarz gerändert. Mit einem Blick, in dem sich Ehrfurcht und Sehnsucht mischen, drückt er sein Gesicht an die Scheibe. Di Paolo fährt einen MG Coupé - einen Sportwagen dieser Luxusmarke sehen die Freunde wahrscheinlich zum ersten Mal.
Das Schwarz-Weiß-Foto entstand 1959 in einem Dorf auf dem Gargano, dem sogenannten "Fersensporn" Italiens. Eine Momentaufnahme, die die Zukunft vorwegzunehmen scheint: Schon bald werden mehr und mehr Touristenautos in die verträumten Dörfer rollen und das Leben der Jungen grundlegend verändern.
Unterwegs mit einem sonderbaren Zeitgenossen
Di Paolo beginnt seine Tour entlang der italienischen Küste im äußersten Westen des Landes: in der ligurischen Stadt Ventimiglia. Auf dem Beifahrersitz nimmt der Autor der geplanten Reportage Platz: der damals noch unbekannte Pier Paolo Pasolini. Unterwegs versucht der Fotograf, ein Gespräch in Gang zu bringen. Aber sein Weggefährte gibt sich wortkarg und weigert sich, darüber zu reden, wie die beiden bei ihren Recherchen in den Badeorten vorgehen sollen. Ein paar Tage macht di Paolo Pasolinis Kapricen mit. Dann ruft er in der Redaktion an, um sich zu beschweren: "Er hat niemanden interviewt, er hat nichts aufgeschrieben, und immer nur beobachtet." Aber der Verleger beruhigt ihn: "Pasolini hat mir schon den Text für die erste Ausgabe geschickt. Er ist wundervoll."
Die Aufnahmen, die der Fotograf von seinem Begleiter gemacht hat, bestätigen Pasolinis Ruf eines schwierigen Zeitgenossen: Sein Blick wirkt finster, das Gesicht verschlossen, die Körperhaltung abweisend. Kein Wunder, dass die beiden nach der ersten Etappe beschließen, ihre Reise getrennt fortzusetzen.
Das bunte Treiben an Italiens Stränden
Di Paolo braust mit seinem Sportwagen die gesamte Westküste hinunter: über Genua, la Spezia und Capri bis nach Sizilien. Und von dort aus entlang an der Adriaküste wieder in Richtung Norden. Überall, wo er haltmacht, fängt er das Treiben an den Stränden ein. Die Lebenslust der Urlauber, ihre Eitelkeiten und das uralte Spiel vom "Sehen und Gesehen-Werden".
Er drückt auf den Auslöser, wenn ein Schwimmer mit stolz geschwellter Brust von einer Klippe springt. Oder wenn ein Vespa-Fahrer und sein Sozius erfolglos versuchen, mit zwei langbeinigen Schönheiten anzubandeln. Di Paolo hat einen Blick für Komik, ohne sich über die Menschen vor der Kamera lustig zu machen.
Der Charme von damals
Die Fotos lassen das Italien aufleben, das unsere Eltern und Großeltern empfing, als sie nach dem Zweiten Weltkrieg - beflügelt vom deutschen Wirtschaftswunder - in den Süden reisten. Die Bilder bringen die Atmosphäre von damals zurück, die Geräusche und Gerüche. Sie beschwören noch einmal den Charme der Fischerdörfer, die sich wenige Jahre später in Bettenburgen verwandelten, die Weite der Strände, auf denen sich heute ein Liegestuhl an den andern reiht.
"La lunga strada di sabbia" - auf Deutsch "Die lange Straße des Sandes" - bietet die einmalige Chance zu einer Zeitreise ins Jahr 1959. Ein herrliches Vergnügen: im MG Coupé rund um Italien - ganz ohne CO2-Ausstoß und schlechtes Gewissen.
La lunga strada di sabbia
- Seitenzahl:
- 256 Seiten
- Genre:
- Bildband
- Verlag:
- teNeues
- Bestellnummer:
- 978-3-96171-488-9
- Preis:
- 70 €