Wolfgang Borchert: Der tragische Held der Trümmerliteratur
Am 20. November 1947 starb der Hamburger Schriftsteller Wolfgang Borchert. Die Bühnen-Premiere seines Erfolgs "Draußen vor der Tür" erlebte der 26-Jährige nicht mehr - hinterließ aber bewegende Werke.
"Ein Mann kommt nach Deutschland. Er war lange weg, der Mann. Sehr lange. Vielleicht zu lange. Und er kommt ganz anders wieder, als er wegging." Wolfgang Borchert braucht in seinem Drama "Draußen vor der Tür" nur wenige Worte, nur wenige Striche, um ein Bild zu zeichnen, das alle verstehen im Hungerwinter 1946/47, so kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Das vom humpelnden Kriegsheimkehrer Beckmann, der sich im zerstörten Hamburg nicht mehr zurechtfindet. Versehrt, seelisch gebrochen, schweigsam. Schnell avanciert das Stück zum größten Erfolg der Nachkriegszeit. Es wird Borchert weltberühmt machen und prägt die Epoche der sogenannten Trümmerliteratur.
"Draußen vor der Tür": Borchert wird zur Identifikationsfigur
Der Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR), der Vorgänger des NDR, sendet es als Hörspiel erstmals am 13. Februar 1947. Für Hans Quest, Schauspieler an den Kammerspielen und am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, ist die Rolle des zwischen zornigem Aufbegehren und resignierender Trostsuche schwankenden Beckmann der künstlerische Durchbruch.
Das Publikum vor den Radiogeräten ist getroffen und schwankt ebenfalls - zwischen Ärger über die abermalige Thematisierung von Krieg und Schuld und der dankbaren Identifikation junger Kriegsheimkehrer, die in Borchert einen sehen, der ihnen eine Stimme verleiht. Im Wolfgang-Borchert-Archiv der Universität Hamburg lagern bis heute Hunderte Briefe, die Hörer an die Rundfunkanstalt schickten: einige begeistert, andere schlichtweg entsetzt.
Den Weg auf die Bühne nimmt das Stück neun Monate später: Die Hamburger Kammerspiele zeigen die Uraufführung von "Draußen vor der Tür" am 21. November 1947. Borchert selbst erlebt diese erste Bühnenversion seines Stückes allerdings nicht mehr. Am Tag zuvor stirbt der Autor nach schwerer Krankheit in Basel - im Alter von 26 Jahren.
"Das Publikum war minutenlang totenstill"
Für die Zuschauer in den Hamburger Kammerspielen ist die Uraufführung ein bewegender Abend. Erst tritt Intendantin Ida Ehre auf die Bühne und unterrichtet die Theaterbesucher über Borcherts Tod. "Das Publikum ist aufgestanden. Wir haben einige Minuten stillschweigend verbracht, bevor die Aufführung begann", erinnert sich die 1989 gestorbene Schauspielerin und Theaterleiterin später.
Und die Reaktion auf die Inszenierung? "Bei der Uraufführung saß das Publikum, nachdem der Vorhang gefallen war, minutenlang totenstill im Saal", erzählt Hauptdarsteller Hans Quest 1985 in einem Interview mit dem NDR. "Erst dann setzte der Applaus ein, der nicht aufhören wollte."
Auch Siegfried Lenz verehrte Borchert
Seit seiner Uraufführung 1947 ist das Stück in mehr als 180 Inszenierungen allein auf deutschen Bühnen gespielt worden. Im Februar 2018 etwa feierte "Draußen vor der Tür" als "Buten vör de Döör" im Hamburger Ohnsorg Theater Premiere - eine erfolgreiche plattdeutsche Inszenierung von Ingo Putz, auf den folgenden Privattheatertagen prämiert wurde.
Aber auch Borcherts Kurzgeschichten wie "Die Hundeblume" oder "Die Küchenuhr" und seine Gedichte sind nach wie vor beliebt, gilt er doch auch als Neubegründer der deutschen Kurzgeschichte. "Borchert ist derjenige Hamburger Nachkriegsautor, der heutzutage noch am meisten gelesen wird", sagt Hans-Gerd Winter. Er ist Vorsitzender der Internationalen Wolfgang-Borchert-Gesellschaft, eine Art Borchert-Fanclub mit rund 200 Mitgliedern aus aller Welt - zu ihnen gehörten auch Helmut Schmidt (1918 - 2015), Hamburgs langjähriger Erster Bürgermeister Henning Voscherau (1941 - 2016) und der Schriftsteller Siegfried Lenz (1926 - 2014).
"Für viele deutsche Schriftsteller war Borchert Vorbild"
"Für viele deutsche Schriftsteller war Borchert Vorbild", so Winter. "Siegfried Lenz hatte erzählt, seine eigenen Kurzgeschichten seien ohne Wolfgang Borchert undenkbar gewesen, sie hätten ihn sehr geprägt." Nach Ansicht von Lenz sei Borchert der erste gewesen, der nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges die Sprache wiederfand. Als Lenz zum ersten Mal das Hörspiel von "Draußen vor der Tür" hörte, sei er völlig erschlagen gewesen, berichtet Winter.
So wie Lenz erging es damals vielen Deutschen. "Alle Welt empfand damals, hier ist der junge Mann, der ausspricht, was uns alle beschäftigt", sagte später der Journalist Axel Eggebrecht (1899-1991), der Wolfgang Borchert persönlich kannte. "Die Wirkung war so groß, weil Borchert als Zeuge der schrecklichen Geschehnisse im Krieg sprach - ohne Mätzchen. Das wirkte so kurz nach dem Krieg unglaublich auf die Menschen", so Eggebrecht.
"Draußen vor der Tür" im Krankenbett geschrieben
Borchert schreibt "Draußen vor der Tür" im Herbst 1946 auf dem Krankenbett - in der Wohnung der Familie Borchert in der Carl-Cohn-Straße in Hamburg-Alsterdorf. "Borchert selbst hat erzählt, er habe das Stück innerhalb einer Woche geschrieben", so Winter von der Wolfgang-Borchert-Gesellschaft. Das Schreiben ist für Borchert damals eine Notlösung, weil er wegen einer schweren Gelbsucht seinem Traumberuf nicht mehr nachgehen kann. "Eigentlich wollte Borchert Schauspieler sein", erzählt Winter. Borchert selbst, ausgebildeter Buchhändler, spricht damals von einem "Theaterfimmel" und hatte sich privat unterrichten lassen.
Borchert schreibt Hitler-Parodie "Käse" mit 18 Jahren
Bevor er 1941 als Soldat eingezogen wird, hat er sich für einige Monate einer fahrenden Schauspieler-Gruppe der Landesbühne Osthannover angeschlossen. Borcherts Leidenschaft für die Bühne zeigt sich schon früh. Als 18-Jähriger schreibt er 1939 zusammen mit einem Freund das Theaterstück "Käse". "Eine Hitler-Parodie", erklärt Borchert-Experte Winter. Erzählt wird die Geschichte eine Käsehändlers, der die Welt erobert. Borchert schickt den Text an Theater-Ikone Gustaf Gründgens. "An eine Aufführung war in der damaligen Zeit aber nicht zu denken", so Winter. "Gott sei Dank ist der Text nicht der Gestapo in die Hände gefallen." Borchert soll später noch genug Probleme mit dem Nazi-Regime bekommen.
Borchert entgeht der Todesstrafe
Borchert gilt als Hamburger durch und durch. Dort wird er am 20. Mai 1921 geboren, dort geht er zur Schule. 1939 beginnt er eine Lehre in der Hamburger Buchhandlung Boysen, bricht diese aber Ende 1940 ab. 1941 wird er als 20-Jähriger an die russische Front geschickt. Durch eine Schussverletzung im Februar 1942 verliert er einen Finger. Daraufhin wird ihm der Prozess gemacht. Der Vorwurf: Er habe sich die Verletzung selbst zugefügt. Es folgen zwei weitere Prozesse wegen abfälliger Bemerkungen über das NS-Regime. Borchert entgeht der Todesstrafe, muss aber während der Verfahren viele Monate in Haft verbringen.
Im Frühjahr 1945 wird der Soldat Borchert von französischen Truppen bei Frankfurt gefangen genommen, ihm gelingt die Flucht. Zu Fuß schlägt er sich rund 600 Kilometer bis nach Hamburg durch. Dort kommt er am 10. Mai 1945 an, zwei Tage nach Kriegsende.
Zwei letzte Monate im Schweizer Sanatorium
Von seinen Leiden aus den Kriegsjahren erholt sich Borchert nicht. Mehrmonatige Krankenhaus-Aufenthalte in Hamburg bringen keine Besserung. Lange Zeit empfängt er seine Besucher deshalb vom Krankenbett aus - schwer gezeichnet von der Gelbsucht: "Er war quittegelb im Gesicht", berichtet Zeitgenosse Eggebrecht später. Und dennoch schreibt Borchert in dieser Zeit seine bedeutendsten Werke. Zwei Monate vor seinem Tod reist er in ein Sanatorium in der Schweiz. Aber auch die Ärzte dort können ihm nicht mehr helfen.
Held der Friedensbewegung
Germanistik-Professor Winter ist sich sicher, dass Borchert auch in Zukunft gelesen wird - die Kurzgeschichten in der Schule, sein Gesamtwerk von Liebhabern seines Lebenshungers und seiner "jungen" Sprache. Und als Antikriegsautor von Kriegsgegnern - auch wegen der dargestellten Traumata von Opfern und Tätern. Vor allem die Hamburger seien Borchert unerschütterlich treu. Lesungen und Aufführungen von Borchert-Werken seien immer ein Garant dafür, dass die Veranstaltung gut besucht ist, berichtet Winter.
Borchert-Box zeigt Leben, Werk und Krankenzimmer
Unter dem Namen "Dissonanzen" gibt es in der Carl von Ossietzky Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg seit 2021 eine große gläserne "Borchert-Box". Real und digital präsentiert sie das Leben und Werk des Schriftstellers wie auch sein Krankenzimmer.