Kirchenaustritte auf Rekordniveau: Höchste Zeit für Veränderungen
Immer mehr Menschen treten aus den großen christlichen Kirchen aus. Was sind ihre Gründe? Und wie lässt sich das aufhalten? Die Hamburger Pastorin Vanessa von der Lieth sucht Antworten.
Kirche ohne Menschen: Die beiden großen christlichen Kirchen leiden unter einem dramatischen Mitgliederschwund. Der evangelischen Kirche gehören nur noch etwa 19 Millionen Menschen an. Die Gründe dafür sind vielschichtig, wie Menschen aus Norddeutschland bei einer Straßenumfrage erzählen: "Über die Jahre hat die Kirche durch meine persönliche Entwicklung immer mehr an Relevanz verloren für mich", erzählt ein junger Mann. "Für mich war es der finanzielle Aspekt”, sagt eine Frau, während eine andere erzählt: "Ich empfand es immer als Zwang, in die Kirche zu gehen. Das war einfach eine Erziehung in der Tradition: Alle gehen in die Kirche, egal, ob du möchtest oder nicht."
Skandale, Missbrauchsfälle und ein schlechter Umgang damit
Pastorin Vanessa von der Lieth aus Hamburg-Altona ist bewusst, dass viele Menschen unzufrieden sind mit der Institution. Viele wählen ein System ab, das sie für veraltet und starr halten. "Ich kann Menschen sehr gut verstehen, die aus der Kirche austreten, zumal ich selber auch als junger Mensch aus der Kirche ausgetreten bin. Mehr Menschen sagen jetzt: Ich kann mir das nicht mehr leisten. Ich finde, das sollten wir auch wirklich ernst nehmen."
Ein anderer gewichtiger Grund für die vielen Austritte, so von der Lieth: "Es gab Skandale, es gab schlimme Missbrauchsfälle und einen schlechten Umgang mit diesen. Den Menschen ist auch völlig egal, ob es sich dabei um die evangelische oder die katholische Kirche handelt. Das kriegen immer beide Kirchen zu spüren." Ansonsten erzählten ihr Austrittswillige auch von persönlichen Schlüssel-Erlebnissen: "Also vom Pastor, der bei der Trauerfeier etwas Dummes gesagt hat, oder von der Pastorin, die bei der Trauung die Namen verwechselt hat oder irgendwas ausgeplaudert hat, was eigentlich nur Backgroundwissen war. Und dann sind die Leute wirklich persönlich gekränkt und sagen: Nee. Wenn ihr euch so wenig Mühe gebt, dann gehen wir."
Pastorin Vanessa von der Lieth: Mit Anfang 20 selbst ausgetreten
Jemanden umstimmen, der sich zum Austritt entschieden hat, würde die Pastorin nie tun. Das hat auch mit ihrer persönlichen Geschichte zu tun. Als junge, unkonventionell denkende Frau fühlte sie sich in ihrer Gemeinde plötzlich falsch. "Ich war sehr engagiert in der Jugendarbeit meiner Heimatgemeinde und habe mich am Ende mit einzelnen Leuten gestritten. Mit Anfang 20 hatte ich wie die meisten Menschen in dem Alter eine starke Neigung zu Schwarz oder Weiß und war dann so wütend, dass ein Verbleib in der Kirche für mich nicht mehr ging. Ich bin dann rausgegangen, habe mich auf die Suche gemacht nach anderen religiösen und spirituellen Erfahrungen."
Als sie merkte, dass das wonach sie gesucht hatte, auch anderswo nicht zu finden war, kehrte sie zur Kirche zurück: "Ich hatte das Gefühl: Hier ist das Dach noch am weitesten, wo viele unterschiedliche Leute von liturgisch sehr konservativ bis sehr bunt irgendwie einen Platz finden."
Neue Ideen: Mehr Musik und eine Agentur für Rituale
"Die" evangelische Kirche gebe es eben nicht. Von der Lieth hat mit Altona-Ost eine zukunftsorientierte Gemeinde in Hamburg gefunden, die verschiedenste Menschen anspricht. "Es gibt natürlich nicht das eine Konzept, dass Kirche retten oder ganz neu aufstellen wird", so die Geistliche. "Es gibt viele Experimente. Es gibt jüngere Kolleginnen, die tolle Sachen machen mit Musik. Es gibt diesen Bereich Popularmusik, wo die Leute einfach tolle Sachen aufziehen, auch mit Videos. Die sind sehr präsent in Social Media und bilden Online-Communities."
Die Pastorin erzählt von Versuchen in Hamburg, die Rituale als einen Schwerpunkt zu setzen: "Ich glaube, es gehört zu unseren Kernkompetenzen, dass wir besondere Stationen im Leben von Menschen begleiten können. Wenn Kinder getauft werden, wenn Menschen heiraten, wenn wir Menschen beerdigen. Es gibt eine Ritual-Agentur, die gerade versucht, auch an ungewöhnliche Orte zu gehen und nicht so ganz konventionelle Sachen zu machen."
Pastorin ohne Kirchturm macht Stadtteilarbeit nah am Menschen
Ihre Kirchengemeinde hat sich schon vor Jahren neu aufgestellt: Drei Kirchen mit vier Pastorenstellen und unter jedem Dach ein spezialisiertes Angebot. Vanessa von der Lieth ist hier die Pastorin ohne Kirchturm. Sie macht Stadtteilarbeit nah am Menschen und netzwerkt, indem sie Gruppen unterschiedlicher Herkunft und Religion zusammenbringt.
"Wenn es Kirche nicht mehr gibt, dann fehlt ein Raum, wo Menschen leistungsfrei leben können", meint von der Lieth. "Wenn ich im Sportverein bin, dann komme ich vielleicht in die zweite Mannschaft, wenn ich nicht gut genug spiele. Das sind aber vielleicht nicht die Leute, mit denen ich zusammen sein wollte, aber da geht es eben nach Leistung. Mein Anspruch an uns als Kirche wäre, Räume zu schaffen, in denen Menschen nichts leisten müssen, um sie selbst sein zu können, um sich entfalten zu können und um Gemeinschaft mit anderen, die wieder anders sind, erleben zu können."
Wer kümmert sich um die Menschen am Rande der Gesellschaft?
Die Kirche wird sich massiv an Personal und Gebäuden verschlanken müssen. Offen bleibt, wer sich um die Menschen am Rand der Gesellschaft kümmert, wenn die Arbeit der Diakonien und Ehrenamtlichen wegbrechen.
Die Menschen auf der Straße haben auf jeden Fall ein Bild von einer Kirche, die gesellschaftlich relevant bleibt. "Kirche muss ja nicht heißen, dass ich viel bete oder viel tue in gläubiger Hinsicht", erzählt eine Frau. "Es kann auch eine sehr schöne Gemeinschaft sein, in der man sich engagiert, in der man sich trifft und von der man auch wieder etwas zurückbekommt." Ein junger Mann meint: "Ich glaube, Kirche vermittelt im weitesten Sinne Werte und Normen, jetzt nicht nur im Sinne der zehn Gebote, sondern allgemein." Und selbst die Frau, die von dem Zwang spricht, den die Kirche für sie bedeutet hat, meint: "Ich glaube, dass die Kirche oder auch Glaube in der Gemeinschaft tatsächlich eine große Stütze sein kann für die Menschen."
Mehr Glaubens- und Wertegemeinschaft, weniger Institution. Das fordern viele Menschen, die aus der Kirche ausgetreten sind. Höchste Zeit, dass die Kirchen sich noch mehr verändern.