Eine Welt in Waffen: Der Osten mit NVA und Warschauer Pakt
Mit der "kasernierten Volkspolizei" baut die DDR Anfang der 50er militärische Grundstrukturen auf. Nach dem NATO-Beitritt der Bundesrepublik wird 1955 der Warschauer Pakt mit der DDR als Gründungsmitglied geschlossen. 1956 steht offiziell die Nationale Volksarmee.
Als Kalter Krieg prägt der Konflikt zwischen der Sowjetunion und den USA und den von ihnen geführten Bündnissen die vier Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg. In den 50er-Jahren werden die beiden deutschen Staaten in diese Bündnisse integriert und die Teilung Deutschlands damit erst einmal festgeschrieben - einerseits durch den Beitritt der Bundesrepublik zur NATO und die Gründung der Bundeswehr, andererseits durch die Integration der DDR in den Warschauer Pakt und die Gründung der NVA, der Nationalen Volksarmee.
In Kriegsgefangenschaft dem Antifaschismus geöffnet
Sieghart John, Jahrgang 1928, wurde im Zweiten Weltkrieg als Teenager noch an die Front geschickt. In britischer Kriegsgefangenschaft lernt er, das sein Vater, ein Antifaschist, mit seiner Haltung möglicherweise doch recht hatte. Und zurück in seiner Heimatstadt Quedlinburg entwickelt sich eine Freundschaft zu einem jungen russischen Offizier, der bei den Eltern einquartiert ist. "Er war jung, ich war jung. Das mit dem Sprechen war nicht drinne. Alles nur Gebärden."
Wiederaufbau militärischer Strukturen erfolgt im Osten früh
Die von den Alliierten beschlossene Demilitarisierung gilt auch für die Sowjetische Besatzungszone (SBZ). Aber schon relativ bald nach dem Krieg werden dort allmählich wieder militärische Strukturen geschaffen - lange vor dem offiziellen Aufbau von Streitkräften in der DDR. Schon 1946 wird im Rahmen der Deutschen Volkspolizei (DVP) eine eigene Grenzpolizei geschaffen, die bis 1948 auf 10.000 Mann aufgestockt wird. Auch Sieghart John meldete sich im Oktober 1948 auf der Suche nach Arbeit zur Volkspolizei. "Genau der Zeitraum, als auch der Beschluss war, wir bauen die Streitkräfte auf", sagt er. Als Polizeianwärter wird er bald zum Aufbau von Bereitschaften an der Grenze abgeordnet. Dabei sei es dann auch schon um die Übergabe von Handfeuerwaffen gegangen, erinnert er sich: "Die Grundlage für Artillerie, so fing das alles an, so stäubchenweise. Das haben wir selbst in der Leitung nicht immer so mitgekriegt, so geheim wurde das alles gehalten."
"Stalin-Note": Vereinigtes Deutschland ohne Bündnispartner
Tatsächlich wird 1952 dann die sogenannte kasernierte Volkspolizei der DDR geschaffen, auch eine Luft- und Seepolizei, die mit Panzern, Schiffen und Flugzeugen ausgestattet wird. Der politische Hintergrund dafür sind die Verhandlungen über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft im Westen. Denn eine Wiederbewaffnung Westdeutschlands im Verbund mit westlichen Streitkräften: Das ist aus Sicht der Sowjetunion eine bedrohliche Vorstellung. Im März 1952 wird deshalb die sogenannte Stalin-Note veröffentlicht: Darin wird die Wiedervereinigung Deutschlands nach freien Wahlen vorgeschlagen, ein Friedensvertrag und sogar die Zulassung einer deutschen Nationalarmee - allerdings unter der Bedingung, dass Deutschland dann neutral bleibt, also keinem Bündnis angehört.
"Deutschlandvertrag": Kurze West-Hoffnung auf Souveränität
Die Bundesregierung fürchtet allerdings, der Vorschlag könnte darauf hinauslaufen, dass ein neutrales Deutschland ohne den militärischen Schutz der USA letztlich der Sowjetunion ausgeliefert wäre und früher oder später in den Einflussbereich Moskaus geraten würde. Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) lehnt ihn daher ab. Im Mai unterzeichnet er stattdessen den sogenannten Deutschlandvertrag, mit dem die Bundesrepublik die meisten ihrer Souveränitätsrechte von den Westalliierten zurückbekommen soll, und den EVG-Vertrag über die Europäische Verteidigungsunion. Der wird in der französischen Nationalversammlung allerdings abgelehnt. Gekoppelt an den EVG-Vertrag, ist damit auch der "Deutschlandvertrag" hinfällig.
Aussichten auf gesamtdeutschen Staat schwinden zunehmend
Schon 1952 wird deutlich, dass die Aussichten auf einen gesamtdeutschen Staat immer mehr schwinden. Nach Unterzeichnung des "Deutschlandvertrags" durch Adenauer lässt SED-Generalsekretär Walter Ulbricht den "planvollen Aufbau des Sozialismus" beschließen. Er lässt einen fünf Kilometer breiten Grenzstreifen zur Bundesrepublik anlegen. Neben der "kasernierte Volkspolizei" werden auch die "Betriebskampfgruppen" geschaffen - quasi eine militärische Reserve, schon lange bevor offiziell Streitkräfte aufgebaut werden.
"Londoner Akte" ermöglicht den Beitritt zur NATO
Nach dem Scheitern des EVG-Vertrages wird am 3. Oktober 1954 die sogenannte Londoner Akte verabschiedet, die der Bundesrepublik den Beitritt zur NATO und die Gründung nationaler Streitkräfte ermöglicht - verbunden mit der tatsächlichen Aufhebung des Besatzungsstatuts. Die DDR reagiert darauf unmittelbar, wie es Sieghart John schildert: "Ende '54 kam eine Kaderauswahl und ich wurde ausgewählt oder in die Funktion versetzt: Ein Stellvertreter des Regimentskommandeurs für Versorgung in der Division 'Rückwärtige Dienste'. Nach Eggesin, in das C-Kommando, schweres Panzerregiment."
Warschauer Pakt wird Ostblock-Pendant zur NATO
Das östliche Bündnis formiert sich unter Führung der Sowjetunion offiziell am 14. Mai 1955: Als Gegenmodell zur NATO wird der Warschauer Pakt gegründet - und die DDR ist ein Gründungsmitglied. Im September 1955 unterzeichnen die Sowjetunion und die DDR dann einen "Freundschaftsvertrag", der auch der DDR Souveränitätsrechte zugesteht - im Rahmen dessen, was die Sowjetunion ihren Bündnispartnern zuzugestehen bereit ist. Im Januar 1956 wird das Gesetz über die Schaffung der Nationalen Volksarmee verabschiedet.
NVA-Aufbau inmitten der Mangelwirtschaft
Bei Gründung der NVA werden die vielfältigen militärischen Strukturen genutzt, die in der DDR bereits in den Jahren zuvor entstanden waren. Sieghart John wird beim 3. Panzerregiment mit der Beschaffung der Ausstattung der Soldaten betraut - und muss sich erst einmal mit der Mangelwirtschaft herumschlagen: "Die Soldaten kriegten anfangs Fußlappen statt Socken. Dann wurden Fußlappen abgeschafft, sie kriegten Socken. Socken kriegten Löcher und wer sollte die flicken? Also haben wir Reklame gemacht. Sind die Frauen gekommen, haben sich Strümpfe geholt und dann haben die geflickt." Auch eine Zweituniform zu bekommen, ist laut John anfangs sehr schwer. Jahrelang haben die Soldaten nur eine Uniform.
DDR-Streitkräfte in "preußischer" Tradition
Die Uniformen, um die sich John bei der NVA kümmern muss, ähneln sehr viel mehr den alten Wehrmachtsuniformen als die der Bundeswehr. Die DDR vertritt den Standpunkt, sie habe wegen ihres sozialistischen Gesellschaftsmodells ganz automatisch nichts mehr mit dem Nationalsozialismus oder dem militaristischen Erbe Deutschlands zu tun. Entsprechend hat sie - anders als die Bundesrepublik - auch nicht das Bedürfnis, sich beim Aufbau ihrer Streitkräfte äußerlich und von ihren Leitbildern her deutlich von der Vergangenheit abzugrenzen. Dass auch ihre Bürger am Vernichtungskrieg der Nazis teilgenommen haben, lässt die DDR-Führung dabei unter den Tisch fallen.
Sieghart John meint, dass bei der NVA auch die Ausbildung härter war als bei der Bundeswehr, es habe insgesamt einfach ein anderer Wind geweht: "Bei uns gab es jeden Tag Dienst, Ausgang war begrenzt. War irgendwie preußischer." Das gilt damals auch für das Verhältnis zwischen Soldaten und Vorgesetzten. Widerspruch, wie es das Leitbild des "Bürgers in Uniform" der Bundeswehr zulässt, ist in der NVA nicht vorgesehen.
Wehrpflicht mit Bausoldaten statt Kriegsdienstverweigerern
Die Wehrpflicht wird in der DDR erst 1962 eingeführt - und wer zum Beispiel studieren will, muss bereit sein, drei Jahre zur NVA zu gehen. Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen wie bei der Bundeswehr gibt es nicht. Wer etwa aus religiösen Gründen keinen Dienst an der Waffe leisten will, wird als Bausoldat in den Baueinheiten der NVA eingesetzt und muss später mit Nachteilen im beruflichen und gesellschaftlichen Leben rechnen.
Anders als in der Bundesrepublik, wo es anfangs nicht einmal öffentliche Gelöbnisse gibt, ist die NVA in der DDR-Gesellschaft sichtbar - und soll es auch sein. Es gibt Truppenparaden, Schulbesuche von NVA-Soldaten - und sogar Kinderlieder, die das Lob der NVA singen. Demonstrationen gegen eine Wiederbewaffnung wie in der Bundesrepublik - in der DDR unmöglich. Aber Sieghart John erinnert sich, dass das Ansehen der NVA tatsächlich gut gewesen sei: "Wahrscheinlich ist es gelungen, immer klar zu machen: Westdeutschland macht uns was vor und wir müssen es nachmachen, also eine Notwendigkeit."
"Niemals empfunden, dass es wirklich ernst werden könnte"
"Im Westen steht der Feind" - das ist in der Tat die Botschaft der DDR-Führung. Immer wieder warnt sie vor den "militaristischen Kreisen" in der Bundesrepublik. John erinnert sich noch gut daran, wie dieses Feindbild damals immer weiter gepflegt wird. "Es wurde ja suggeriert, dass das wieder auf Krieg und Aggression hinausführt." Wirkliche Kriegsangst aber hat er als NVA-Soldat nicht: "Also ich habe das niemals so empfunden, dass es wirklich ernst werden könnte." Dass es Spannungen gibt zwischen zwei entgegengesetzten Gesellschaftsordnungen, hält er in den 50er- und 60er-Jahren für logisch. Aber in seiner Umgebung haben in seiner Erinnerung alle das Vertrauen, dass es schon gut gehen wird. In Ost wie West verlässt man sich dabei auch auf die Bündnispartner - dort der NATO, hier des Warschauer Paktes.
Militär soll das System auch im Inneren stabilisieren
Anders als die Bundeswehr haben die Truppen des Warschauer Paktes allerdings nicht nur die Aufgabe, die sozialistische Ordnung nach außen zu verteidigen, sondern auch die, das System nach innen zu stabilisieren. Damit lässt sich der Einsatz sogenannter Bruderarmeen rechtfertigen, wenn sich ein Land des Warschauer Paktes von den Vorgaben aus der Sowjetunion weg entwickelt - wie etwa bei der Niederschlagung des Aufstands in Ungarn 1956. Oder eben auch der Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze.