Volkszählung 1983: Protest ganz ohne Twitter
Mit dem Grundgesetz in der einen Hand und einem Stapel Flugblättern in der anderen haben Bürgerinitiativen, Juristen und Computerexperten vor fast dreißig Jahren eine Volkszählung zu Fall gebracht. Der Hamburger Informatik-Professor Klaus Brunnstein war dabei. Er saß 1983 auf der Kläger-Bank und jubelte mit, als das Bundesverfassungsgericht die Volkszählung untersagte. Vier Jahre später kam es zu einer abgespeckten Version. Brunnstein erinnert sich im Gespräch mit NDR.de an den Kampf in den 80er-Jahren - und wundert sich über die Gelassenheit der heutigen Facebook-Generation.
NDR.de: Wann sind Sie auf das Thema Datenschutz aufmerksam geworden?
Klaus Brunnstein: Anfang der 70er-Jahre. Wir haben damals die Frage gestellt, wie eine Welt sich verändern würde, in der digitale Techniken eine zunehmende Rolle spielen. Wir haben vorausgesehen, dass sich Regierung, Behörden und vor allem Unternehmen dieser Techniken bedienen würden. Bereits in den frühen 70er-Jahren wurde klar, dass die Bürgerrechte durch die mangelnde Transparenz beeinträchtigt werden könnten. Wichtig war uns, dass die gespeicherten Daten korrekt sind und dass den Betroffenen bekannt ist, welche Daten gespeichert werden.
Das Problem der Re-Identifizierung
NDR.de: Warum waren Sie 1983 gegen die Volkszählung?
Brunnstein: Die Statistiker haben immer wieder darauf hingewiesen, dass die Daten anonymisiert werden. Ich habe aber 1981/82 mit meiner damaligen Diplomandin die Frage untersucht, inwieweit man aus den gesammelten Daten auf die Person zurückschließen kann - die sogenannte Re-Identifizierung. Und es hat sich gezeigt, dass man die Daten auf jede einzelne Person zurückführen kann, wenn man das Zusatzwissen aus den Einwohnermelderegistern hat.
NDR.de: Was ist dann damals passiert, wie ist es zum Gang vor das Verfassungsgericht gekommen?
Brunnstein: Die Entwicklung zur großen Volksbewegung ist eher zufällig gewesen. Das hing wohl mit dem Jahr 1983 zusammen - denn das war kurz vor dem "Orwell-Jahr". Die Medien sind aufmerksam geworden, als einige Juristinnen eine einstweilige Anordnung vor Gericht erwirkten und so auf die Risiken hinwiesen. Als Spezialist für den technischen Datenschutz war ich dann an der Klage mehrerer Rechtsinformatiker gegen die Volkszählung beteiligt.
NDR.de: Können Sie Ihre Bedenken von damals noch einmal zusammenfassen?
Brunnstein: Die hauptsächlichen Bedenken des Verfassungsgerichtes waren juristische - ob es verhältnismäßig wäre, die Daten zu erfassen. Das hat mich weniger berührt. Mich hat vor allem gestört, dass hier eine sehr große Menge Daten gesammelt werden sollte, deren Qualität nicht gesichert wäre. Es war von vornherein klar, dass die Daten erst nach sechs, sieben Jahren verfügbar sein würden - dann sind aber höchstens noch 15 bis 20 Prozent der Daten zuverlässig. Wie wollen sie damit einen Kindergarten planen? Zweiter Punkt: In den 80er-Jahren breitete sich die Datensammelwut bei Behörden und vor allem Unternehmen dramatisch aus. Datenbanken bei Versicherungen, Banken, Personalabteilungen - das war der Renner in der Informatik.
NDR.de: Auch gegen die abgespeckte Variante der Volkszählung 1987 gab es viele Boykottaufrufe. Haben Sie am Ende einen Volkszählungsbogen ausgefüllt?
Brunnstein: Ähh - ehrlich gesagt - ich erinnere mich nicht mehr. Ich glaube, wir haben den ausgefüllt und abgegeben. Ich hatte 1987 weniger Bedenken. Das Problem war damals bereinigt durch das Volkszählungsurteil. Es hat eine erhebliche Reduzierung der Daten gegeben und Rahmenbedingungen für die Speicherung.
"Die Leute waren engagierter"
NDR.de: Damals gab es noch kein Internet. Wie haben sich die Volkszählungsgegner in den 80ern "vernetzt"? Wie haben sie es geschafft, so einen starken Widerstand zu mobilisieren?
Brunnstein: Mit Flugblättern und Telefonketten. Das war noch die 68er-Bewegung, die sich da organisiert hat. Wir haben auch die Zeit der großen Anti-AKW-Demonstrationen gehabt - die setzte Organisationsfähigkeit voraus. Dass man heute mit Twitter und Facebook Revolutionen macht - wie in Ägypten und Tunesien - das ist ein bisschen zeitgenössisch. Aber ich glaube, die tiefere Wirkung hatten die selbst erarbeiteten Flugblätter und die Telefonate. Die Leute waren meiner Ansicht nach engagierter.
NDR.de: Woran liegt es, dass sich die Deutschen heute offenbar kaum für den bevorstehenden Zensus interessieren?
Brunnstein: Wir haben heute Bewegungen, die sagen: "Datenschutz? Scheiß drauf!" Es gibt zum Beispiel eine Gruppe, die nennt sich "Spackeria". Die Gründerin hat in aller Offenheit gesagt: "Datenschutz ist sowas von Eighties!" Die Frau kapiert glaube ich gar nicht, auf was sie sich einlässt. Vielen Leuten ist das heute ziemlich egal, wenn sie lesen, dass sie diese Tracking-Software auf dem iPhone haben könnten - das finden viele Leute sogar gut. Die wollen sich zum Bier verabreden, und da müssen sie auch wissen, wer gerade in welcher Kneipe ist.
"Das sind die Bürokraten, die dahinterstehen"
NDR.de: Braucht der Staat denn eigentlich die Volkszählung? Manche Wissenschaftler sagen, freiwillige Angaben von einem kleinen Teil der Bevölkerung als Datengrundlage wären ihnen lieber.
Brunnstein: In einer Zeit mit dramatischen Veränderungen, etwa bei unserer Energie-Situation, müssen wir die alten Planverfahren, die sich über zwanzig Jahre hinziehen - um eine Umgehungsstraße zu bauen, um einen Bahnhof zu bauen - total ändern. Wir müssen die Daten aktuell und im Konsens mit den Bürgern sammeln. Das heißt - keine Vorratsdatensammlung!
NDR.de: Wer will denn dann die Volkszählung? Das sind doch Wissenschaftler, das sind doch Leute wie Sie, die an diese Daten ran wollen.
Brunnstein: Nein, das sind nicht die Informatiker, und das sind auch nicht die Soziologen. Das sind die Bürokraten, die dahinterstehen und die Politiker, die auch nicht bereit sind zu lernen. Ein Beispiel: Stuttgart 21. Das wird seit 20 Jahren geplant und nun soll es umgesetzt werden, obwohl sich die Verhältnisse total verändert haben.
NDR.de: Wie verhalten Sie sich, wenn im Mai die Zähler bei Ihnen vor der Tür stehen?
Brunnstein: Ich habe noch keine Benachrichtigung bekommen. Ich weiß nicht, ob ich in der Zehn-Prozent-Stichprobe drin bin. Ich hätte aber keine Bedenken, den Fragebogen auszufüllen.
Das Gespräch führte Oliver Diedrich, NDR.de