Juli 1978: Celler Loch erschüttert Niedersachsen
Ein lauter Knall. Ein Feuerball erhellt die Nacht, als am 25. Juli 1978 um 2.54 Uhr eine Bombe an der Justizvollzugsanstalt Celle detoniert. Die Beamten im Wachturm geben Alarm und leuchten mit Suchscheinwerfern die sechs Meter hohe Außenmauer ab. Dort klafft ein Loch von rund 40 Zentimetern Durchmesser. Viel später erst wird bekannt: Es war ein fingierter Anschlag mit Wissen der damaligen CDU-Landesregierung. Der Verfassungsschutz ließ das Loch in die Gefängnismauer sprengen. V-Leute sollten so in den harten Kern der RAF eingeschleust werden. Es dauert bis 1986, bis die Hintergründe aufgedeckt werden - durch einen Journalisten der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung" (HAZ).
Es sollte wie eine Befreiungsaktion aussehen
Nachdem am frühen Morgen des 25. Juli 1978 die Celler Kriminalpolizei und der entsetzte Gefängnisdirektor Paul Kühling eingetroffen sind, stürmen gegen vier Uhr Beamte in Zivil zielsicher die Zelle von Sigurd Debus und durchsuchen sie. Kühling ordnet Einzelhofgang an. Der damals 35-jährige mutmaßliche Terrorist sitzt eine zwölfjährige Haftstrafe ab - wegen politisch motivierter Banküberfälle und der Vorbereitung zweier Bombenanschläge. Der Nachweis für eine direkte Tatbeteiligung an den Anschlägen fehlt allerdings.
Der Terrorist liegt noch im Bett
In dieser Nacht sieht alles danach aus, als hätten Sympathisanten aus dem linksextremistischen Milieu Debus befreien wollen. Denn Kripo-Beamte in Salzgitter haben schon im Februar ein verdächtiges Fahrzeug sichergestellt, in dem sie neben Munition auch einen gefälschten Ausweis mit dem Foto von Sigurd Debus fanden. Bei der Durchsuchung der Zelle in Debus' Abwesenheit entdecken Beamte angeblich Ausbruchswerkzeug. Allerdings hat Debus zum Zeitpunkt der Detonation im Bett gelegen und schien überhaupt nicht auf seine Befreiung vorbereitet.
Verdacht fällt auf die RAF
Die Schlagzeilen am nächsten Morgen berichten einhellig von einem Terroranschlag auf die Justizvollzugsanstalt. Der Verdacht liegt nah: Zwei Monate zuvor ist in Berlin eine bewaffnete Befreiungsaktion aus dem Gefängnis Moabit gelungen. Doch als entscheidendes Indiz für einen terroristischen Hintergrund der Tat präsentiert das Landeskriminalamt in Hannover das sogenannte Dellwo-Papier. Urheber des Strategiepapiers soll RAF-Mitglied Karl-Heinz Dellwo sein, der 1975 am Anschlag auf die deutsche Botschaft in Stockholm beteiligt war. Die darin skizzierte "Verunsicherungsstrategie" liest sich wie das Drehbuch zum Celler Anschlag: Unblutige "Anschläge auf den äußeren Bereich der Vollzugsanstalten" seien durchzuführen, um "eine Zusammenlegung einsitzender Terroristen zu Interaktionsgruppen" zu erzwingen.
Drei Tage später erscheint das erste Fahndungsfoto des Verdächtigten Klaus-Dieter Loudil. Der Mithäftling von Sigurd Debus war aus seinem Hafturlaub nicht zurückgekehrt. Doch die Fahndung verläuft ergebnislos.
Die Bombe platzt zum zweiten Mal
Am 25. April 1986 - drei Wochen vor der Landtagswahl in Niedersachsen - macht die "Hannoversche Allgemeine Zeitung" mit einer unglaublich klingenden Geschichte auf: Der Anschlag auf die Justizvollzugsanstalt Celle sei komplett inszeniert gewesen. Doch was Journalist Ulrich Neufert in seinem später preisgekrönten Artikel aufdeckt, entspricht der Wahrheit. Beamte legten die Bombe, Minister waren ihre Auftraggeber, der Verfassungsschutz sekundierte. Höchste Regierungskreise vom niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht bis zum damaligen Bundesinnenminister Werner Maihofer waren eingeweiht, Gefängnisdirektor Paul Kühling sowieso.
Die "Aktion Feuerzauber" sollte V-Leuten ein Stück Biografie verschaffen, um ihnen den Einstieg in die linksextremistische Szene zu ermöglichen. Für diesen Job rekrutierte der Verfassungsschutz neben Klaus-Dieter Loudil den ebenfalls wegen schwerer Verbrechen verurteilten Manfred Berger. Beide bemühten sich schon vor dem Anschlag, als Lockspitzel Komplizen für die geplante "Befreiungsaktion" anzuwerben.
Regierung Albrecht feiert "Terror-Theater" als Erfolg
Erste Stellungnahmen lassen nicht lange auf sich warten. Während Gerhard Schröder als damaliger SPD-Spitzenkandidat Albrecht dafür attackiert, dass er "zur Bekämpfung des Terrors den Einsatz terroristischer Mittel anordnet", gibt sich der Ministerpräsident selbstbewusst: "Ich bin sicher, dass unsere Bevölkerung genau das von mir verlangt." Zur Erfolgsbilanz der Aktion zählen angeblich der verhinderte Mord an einem Celler Justizvollzugsbeamten durch Debus und die Entdeckung einer konspirativen Wohnung in Hamburg, in der eine Fünf-Kilo-Bombe gefunden wurde und die als "Volksgefängnis" gedacht war. Außerdem hätten die V-Leute wichtige Informationen über die baskische Terror-Organisation ETA ermittelt.
Untersuchungsausschuss liefert Einblicke
Der Ende 1986 eingesetzte parlamentarische Untersuchungsausschuss kann Albrechts Eigenlob, "schlimme Verbrechen" verhindert zu haben, nicht bestätigen. Tatsächlich traten die V-Leute als reichlich fragwürdige Provokateure auf. Sie halfen, so vermutet der Grünen-Abgeordnete Georg Fruck, Verbrechen aufzuklären, "die sie selbst eingefädelt und dann als Erfolg verkauft" haben.
Sprengstoffanschlag als "nachrichtendienstliches Mittel"
Wesentlich stärker als die Celler Gefängnismauer ist das Vertrauen in die Politik und die Sicherheitsorgane erschüttert. Das Schüren von Terrorangst und die gezielte Desinformation der Bevölkerung führten dazu, dass man künftig nicht mehr wisse, "welche Anschläge von Terroristen und welche vom Staat zu verantworten sind", urteilt der damalige Abgeordnete des Niedersächsischen Landtags Jürgen Trittin. Verfassungsschützer Peter Frisch hatte nämlich betont, dass auch ein Sprengstoffanschlag durchaus ein "nachrichtendienstliches Mittel" sein könne.
Ein fragwürdiger Präzedenzfall
Die am 7. Mai 1986 eingeleiteten Ermittlungsverfahren gegen die Beteiligten der Sprengung werden tags darauf wieder eingestellt, da sich in den Augen der Lüneburger Staatsanwälte keine Anhaltspunkte für Straftaten ergeben hätten und für verschiedene Vorwürfe bereits Verfolgungsverjährung eingetreten sei. Unklar bleibt zunächst, ob eine derartige staatliche Sprengaktion samt umfassender Desinformation grundsätzlich rechtens ist oder nicht. Die abrupte Einstellung des Verfahrens legt jedoch nahe, dass solches Handeln nicht gegen Gesetze verstößt. Dadurch erhält das Celler Loch den Status eines fragwürdigen Präzedenzfalls.
Kein Fall fürs Museum
Als 1998 die alte Außenmauer der Justizvollzugsanstalt Celle einer neuen weicht, fräst die anstaltseigene Maurerkolonne das Celler Loch in einem Block heraus und rekonstruiert es. Seitdem erinnert das Denkmal Besucher, Bedienstete und Bewohner an den Skandal, damit, so Paul Kühlings Nachfolger Rüdiger Wohlgemuth, "dieser Staatsunsinn nicht in Vergessenheit gerät." Doch vom Celler Loch bleibt nicht nur ein Denkmal zurück, sondern auch die stets wiederkehrende Debatte um den Einsatz von Lockspitzeln.