Widersprüche - Informationen aus Afghanistan
Das haben sich die Parteien so nicht gewünscht. Im Gegenteil. Sie wollten es gar nicht. In diesem Wahlkampf sollte Afghanistan kein Thema sein. Jetzt ist es das Thema. Und das nicht nur, weil die Bundeswehr vergangenen Freitag veranlasst hatte, zwei Tanklaster bei Kundus zu bombardieren und dabei neben Taliban-Kämpfern auch zahlreiche Zivilisten umgekommen sind. Sondern vor allem weil er - der Bundesverteidigungsminister – keine gute Figur gemacht hat: abwiegeln, abwehren, abstreiten - und dann häppchenweise doch zugeben müssen. Das ging eindeutig nach hinten los. Zapp über die grobmotorische Informationspolitik des deutschen Verteidigungsministers Franz Josef Jung nach einem fatalen Angriff.
Das Krankenhaus in Kundus: Hier liegen die Opfer des Luftangriffs. Wer sind sie? Wo sind die Toten? Und wie viele waren es? Vor allem: Waren es Aufständische? Was ist passiert? „Erfolgreicher Einsatz gegen Aufständische im Raum Kundus“ (Stellungnahme Bundeswehr in Kundus, 04.09.2009, 6 Uhr). So die offizielle Mitteilung der Bundeswehr am Freitagmorgen. Und die Bundeswehr meint diese zwei Tanklastzüge bei Kundus. Sie wurden in die Luft gesprengt. Ein deutscher Oberst hat den Luftangriff angefordert. „In der Nacht zum Freitag, den 4. September wurden durch Aufständische (...) zwei beladene Tanklastzüge gekapert (...). 56 Aufständische wurden getötet, Zivilisten kamen vermutlich nicht zu Schaden“ (Stellungnahme Bundeswehr). Christoph Reuter, Stern-Korrespondent: „Es war ein grotesker Moment, weil es klang eins zu eins so wie das, was man über Jahre, was wir über Jahre von den Amerikanern erlebt haben. Im Irak, in Afghanistan, das sie irgendwo bombardieren und sofort, obwohl sie nie überhaupt einen Fuß in das Dorf gesetzt haben, nur aus der Luft sich das ganze angeschaut haben, sofort wissen, sie haben 56 Leute umgebracht, und das waren alles Aufständische, das waren alles Terroristen.“ Florian Meesmann, ARD-Korrespondent: „Man hat sich ja sehr früh festgelegt, hat sich ja sehr früh darauf festgelegt, das es keine zivilen Opfer gegeben habe. Unser afghanischer Streamer war da etwas vorsichtiger, der hat erst einmal von toten gesprochen. Viel mehr wusste man zu diesem Zeitpunkt ja auch nicht.“
Wenig später aber wissen viele vieles.
Wenig später aber wissen viele vieles. Um 7 Uhr 20 meldet der Bezirkspolizeichef: 60 Tote, auch Zivilisten. 8 Uhr 33 – Die Afghanische Polizei spricht von 90 Toten, darunter 40 zivile Opfer. 8 Uhr 45 – Der Gouverneur der Region: 90 Tote, 45 Zivilisten. 13 Uhr 56 - Dorfbewohner sprechen von mehr als 150 Toten oder Verletzten. Immer neue Meldungen, immer mehr Fragen. Bildausschnitte Beitrag über den Luftschlag: RTL Aktuell (RTL, 07.09.09), Tagesschau (ARD, 04.09.2009), Sat.1 Nachrichten (07.09.2009). Und immer neue Fragen und der Minister verteidigt den Angriff. Bildausschnitt: Franz-Josef Jung, Verteidigungsminister: „Und deshalb war es eine sehr konkrete Gefahrenlage, wenn die Taliban in den Besitz von zwei Tanklastwagen gekommen sind, die hier erhebliche Gefahr für unsere Soldaten bedeutet haben“ (ARD, Tagesschau vom 04.09.2009). Bildausschnitt: Franz-Josef Jung, Verteidigungsminister: „Was wir bisher nur wissen ist, das beispielsweise auch verkohlte Waffen dort gefunden worden sind, so dass hier die Indizien sehr klar für Taliban sprechen“ (ZDF, Heute Journal vom 04.09.2009).
Nichts ist daran falsch
Auch die NATO sucht nach Indizien, recherchiert vor Ort, früher als die Bundeswehr. Und Oberkommandeur McChrystal fährt zum Krankenhaus, er besucht dort die verletzten Afghanen. General Stanley McChrystal, ISAF-Oberbefehlshaber: „And then as we talked to the afghan government officials and then as we talked to the hospital, then we got to offer our sympathy to some of the patients, its clear to me that we have some Afghan civilians who came to that site and were subsequently injured.�? Übersetzung: „Als wir mit Vertretern der afghanischen Regierung gesprochen haben und mit Mitarbeitern hier im Krankenhaus, wo wir unsere Anteilnahme für die verwundeten Patienten zeigen konnten, ist deutlich geworden, dass es einige Afghanische Zivilisten gibt, die zu dem Tanklastwagen kamen und folglich verletzt wurden.“ Am Tag danach berichtet die Washington Post von 125 Toten - darunter 24 Zivilisten. Zündstoff, denn sie widerspricht der Version der Bundeswehr. Bildausschnitt: „Sole Informant Guided Decision On Afghan Strike“ (Washington Post vom 05.09.2009). Christoph Reuter, Stern-Korrespondent: „Das war eine sauber recherchierte Geschichte, wir haben sie in vielen Teilen, soweit es uns möglich war, nachgeprüft. Nichts ist daran falsch. Sie ist ausgesprochen ausgewogen, sie hat aber die Bundeswehr dabei erwischt, dass sie versucht haben, die Dinge etwas geheim zu halten.“ Michael Schmidt, „Der Tagesspiegel“: „Wir sind in ein Wochenende gegangen mit zweierlei Wahrheiten. Der Minister, der auf 56 getöteten Aufständischen beharrte und dem Rest der Welt, der sagte, es ist mindestens wahrscheinlich dass bei Luftschlägen es mehr Tote geben hat und auch zivile Opfer und das ist nicht aufgelöst worden.“ Die deutschen Zeitungen berichten von der mühsamen Suche nach der Wahrheit. Bildausschnitt: „Mühsame Suche nach der Wahrheit“ (Die Welt vom 07.09.2009). Die Bundeswehr gerät unter Beschuss, die Regierung in Erklärungsnot. Doch 125 Tote bei Bomber-Angriff? Bildausschnitt: „Regierung in Erklärungsnot: Doch 125 Tote bei Bomber-Angriff“ (Hamburger Abendblatt vom 07.09.2009).
„Wir klären jetzt auf“
Im Morgenmagazin Kleinlautes. Der Minister hat seinen Staatssekretär vorgeschickt. Christian Schmidt, Verteidigungsstaatssekretär (CSU): „Aber wir haben ja schon uns zu Beginn in schneller Information uns auf afghanische Quellen gestützt und verlassen, die sich, na ja, die nun nicht sich als 100% bestätigt herausstellen.“ Und auch in der anderthalbstündigen Pressekonferenz fehlt der Minister, schickt dieses Mal seinen Sprecher vor. Thomas Raabe, Sprecher des Verteidigungsministeriums: „Wir haben bis zum jetzigen Zeitpunkt keine konsolidierten Kenntnisse über zivile getötete Personen. Dass es verletzte gibt unter den Zivilisten, das ist unumstritten, aber keine konsolidierte Kenntnis über zivile Getötete.“ Die Fragen werden drängender. Die Antworten nicht befriedigender. Bildausschnitt: Franz-Josef Jung, Verteidigungsminister (CDU): „Ich kenne diese jetzt unterschiedlichen Meldungen, deshalb kann ich das selbstverständlich natürlich nicht ausschließen.“ (SAT.1 Nachrichten vom 07.09.2009.), „Tatsache ist doch folgendes: Wir klären jetzt auf und wollen den gesamten Sachverhalt wissen, wir unterstützen sehr die Nato.“ (ARD Brennpunkt vom 07.09.2009), „Ich hab doch gerade gesagt, dass ich das natürlich nicht ausschließen kann, ja? Sondern ich habe gesagt, die Aufklärung, ich will jedem vorschnellen Urteil jetzt entsprechend entgegentreten.“ (RTL Aktuell vom 07.09.2009.).
Bundeswehr hat ein Imageproblem
Immer mehr Zeitungen berichten über den Minister der Verlegenheit. Bildausschnitt: „Minister der Verlegenheit“ (Süddeutsche Zeitung vom 08.09.2009.) und seinen fatalen Angriff. Bildausschnitt: „Ein fataler Angriff“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 08.09.2009). Sie nehmen den Kriegsminister unter Beschuss. Bildausschnitt: „Kriegsminister unter Beschuss“ (Tageszeitung vom 08.09.2009). Aber nicht nur Franz-Josef Jung gerät unter Druck, auch die Bundeswehr mit ihrem Einsatz in Afghanistan hat das Imageproblem, gegen das sie lange gekämpft hat. Florian Meesmann, ARD-Korrespondent: „Man hat sich darum bemüht, vor allem die Wiederaufbauleistungen der Bundeswehr in den Vordergrund zu stellen und man war sehr darum bemüht, den Anteil, der mit Gefechten, mit Auseinandersetzungen mit Aufständischen verbunden war, diesen Anteil sehr, sehr klein zu halten in der Außendarstellung.“ Christoph Reuter, Stern-Korrespondent: „Wir haben die Erfahrung gemacht, wir können besser mittlerweile mit afghanischen Quellen, mit afghanischen Stellen recherchieren als mit der Bundeswehr. Man braucht Kontakte, man braucht eine Vertrauensbasis, aber dann lässt sich da durchaus arbeiten.“
Isoliert unter Wahlkämpfern
Das Vertrauen in den Minister hat gelitten. Gestern im Bundestag: Isoliert unter Wahlkämpfern. Die Regierungserklärung der Bundeskanzlerin ist unausweichlich. Michael Schmidt, Redakteur „Der Tagesspiegel“: „Er nötigt die Kanzlerin letztlich in die bütt zu steigen um Schadensbegrenzung zu betreiben. Es wäre ein leichtes für ihn gewesen, von Anfang an eine Brandmauer hochzuziehen, die Möglichkeit, ziviler Opfer einzuräumen und sich zu entschuldigen.“ Und Angela Merkel nutzt diese Möglichkeit. Doch neues über die Opfer, sagt auch sie nicht. Angela Merkel, Bundeskanzlerin: „Die lückenlose Aufklärung des Vorfalls vom letzten Freitag und seiner Folgen ist für mich und die ganze Bundesregierung ein Gebot der Selbstverständlichkeit.“ Christoph Reuter, Stern-Korrespondent: „Die Kernfrage traut sie sich nicht zu berühren, nämlich: Was machen wir mit einem Nord-Afghanistan, das ohne die Schuld der Bundeswehr sich von einer relativ friedlichen Zone in ein Kampfgebiet verwandelt hat? Klären wir das in einer öffentlichen Debatte, dass wir in der Tat rausgehen müssen, kämpfen müssen, wenn wir schon mal da sind. Das heißt aber auch, dass es mehr Tote geben wird, als es bislang gegeben hat. Und das wäre die Frage, die geklärt werden muss.“ Die Frage muss auch in der Öffentlichkeit geklärt werden, genauso wie die Frage, was in der Nacht zu Freitag wirklich passiert ist.