Gewalt: Alltag im Jugendknast
Es waren die schlimmsten Momente seines Lebens: Alles begann damit, dass zwei Mitgefangene ihm die Haare abschnitten. Doch dabei blieb es nicht. Jonas S., Gefangener in der Jugendstrafanstalt Ichtershausen in Thüringen, wurde erst bedroht und gedemütigt, dann geschlagen und schließlich sexuell missbraucht, immer wieder - ein ganzes Wochenende lang. Der damals 17-Jährige war ursprünglich wegen kleinerer Delikte wie Schwarzfahren, Diebstahl und Sachbeschädigung verurteilt worden. Dann verstieß er gegen seine Bewährungsauflagen - es folgte die Haft. Dort wurde der Jugendliche Opfer von Brutalität und Folter. "Es ist alles andere als ein Einzelfall", so der Anwalt von Jonas S., Thorsten Kahl. "Gewalt gehört zum Alltag in deutschen Gefängnissen."
Was sich hinter den Mauern deutscher Gefängnisse abspielt, dringt nur selten ans Licht der Öffentlichkeit. In Ichtershausen war es immer wieder zu brutalen Gewaltexzessen gekommen. Der schlimmste Fall ereignete sich im Jahr 2001. Damals wurde ein jugendlicher Häftling von drei anderen Insassen brutal ermordet. Ein ähnlicher Fall ereignete sich 2006 in der JVA Siegburg bei Bonn. Politik und Öffentlichkeit reagierten damals alarmiert. Die Debatte verebbte aber schnell wieder.
Gewalt gehört zum Alltag in Jugendgefängnissen
Gewalt gehört zum Alltag in Jugendgefängnissen, meint Holger Pröbstel. Der Jugendrichter vom Landgericht Erfurt hat über die beiden Häftlinge zu urteilen, die Jonas S. so entsetzliche Schmerzen zugefügt haben. Weil er die Gewalt im Knast kennt, versucht Pröbstel bestimmten Jugendlichen die Haft so lange wie möglich zu ersparen, indem er Bewährungsstrafen verhängt: "Wenn wir manchen Angeklagten sehen", so Pröbstel, "kann man sich ausmalen, wie es dem in der Haft ergeht. Wenn der schon das 'O' des Opfers auf der Stirn trägt - und das kriegen die in der Haft schnell raus - dann hat der es da schwer."
Doch obwohl Gewalt im Knast ständig vorkommt, haben offenbar viele Insassen Angst, von ihren Qualen zu berichten. Holger Pröbstel hat dafür eine einfache Erklärung: "Im Knast gilt: Nicht anscheißen. Also, wenn Sie sich als Häftling unbeliebt machen wollen, gehen Sie zum Bediensteten und sagen: 'Der X hat mir gerade auf die Nase gehauen'. Dann kann man die Uhr danach stellen, dass dieser Häftling unter Umständen wieder Repressionen ausgesetzt ist."
Im Gefängnis Gewalt lernen
Pröbstels Beobachtungen werden von Professor Frank Neubacher unterstützt. Der Kriminologe von der Universität Köln kommt in einer aktuellen Studie zum Ergebnis, dass 80 Prozent der jugendlichen Strafgefangenen schon einmal von Mithäftlingen angegriffen wurden. Neubacher und seine Kollegen haben 882 Gefangene in den Justizvollzugsanstalten Heinsberg, Herford (NRW) und Ichtershausen (Thüringen) befragt. Auch Neubacher spricht davon, "dass das meiste, was passiert, den Bediensteten gar nicht bekannt wird." Im Gegenteil, viele Menschen meinen offenbar, sich im Gefängnis nur mit Gewalt helfen zu können. Rund 70 Prozent der Befragten gaben an, dass sie in den vergangenen drei Monaten sowohl Opfer als auch Täter gewesen wären. Laut Neubacher ist das Gefängnis damit "ein Ort, an dem man Gewalt auch erlernen kann.
Es geht auch anders
Doch geht es auch anders? Ist ein Strafvollzug ohne Gewalt überhaupt möglich? Die Schweiz geht beim Jugendstrafvollzug einen anderen Weg als Deutschland. Dort wird bei jugendlichen Straftätern neben der Freiheitsstrafe immer auch eine Maßnahme verhängt. Was man dort sieht, ist zunächst verstörend: Gefängnis ohne Gitter. Und Jugendliche, die erst ab 22 Uhr in ihrem Zimmer eingeschlossen werden. In einem Maßnahmenzentrum wie beispielsweise dem Arxhof im Kanton Basel-Land, werden die jungen Menschen umfangreich psychologisch betreut und müssen einen Beruf erlernen. Erst wenn ein Straftäter in einem Maßnahmenzentrum scheitert, muss er hinter Gitter.
Extrem erfolgreiches Konzept
Das Konzept ist in der Schweiz sehr erfolgreich. Während in Deutschland rund 70 Prozent der jugendlichen Straftäter rückfällig werden, sind es bei denjenigen, die etwa den Arxhof durchlaufen haben, nur 26 Prozent. Möglich ist das nur durch intensive Arbeit mit den Jugendlichen, meint Renato Rossi, Direktor des Arxhofs: "70 Prozent aller Bewohner sind selbst Opfer von Gewalt, vor allem auch von familiärer Gewalt. Und das ist in der Regel schon über mehrere Generationen weiter getragen worden. Es gehört in diesen Familien zum Erziehungsstil, Gewalt anzuwenden." Diesen Teufelskreis gelte es zu durchbrechen. Das reine "Wegsperren" würde laut Rossi bei den jungen Menschen keine Änderung ihrer Einstellung auslösen, sondern diese eher verstärken. Gewaltprobleme, wie sie in deutschen Jugendstrafanstalten alltäglich sind, gibt es im Arxhof nicht. "Das ist uns völlig fremd, das kennen wir nicht."