"Menschenrechte der Kinder werden mit Füßen getreten"
Die Reporter Gesine Enwaldt und Kersten Schüßler im Gespräch mit NDR.de
Frage: Wie sind Sie auf das Thema Pflegekinder gekommen? Steht das in Zusammenhang mit dem Fall Chantal?
Gesine Enwaldt: Wir sind über eine Zahl auf dieses Thema gestoßen, die uns sehr nachdenklich gestimmt hat - nämlich, dass die Zahl der Herausnahmen von Kindern und Pflegekindern aus Familien zwischen 2005 und 2010 um rund 40% gestiegen sind. Wir haben uns gefragt, woher dieser dramatische Anstieg kommt, und vor allem, was mit diesen Kindern passiert, ob sie angemessen betreut werden. Wir haben schnell gemerkt, dass hinter diesen Zahlen unzählige Kinderschicksale stecken, die bei genauerer Betrachtung erschreckend sind.
Eine Erkenntnis hat uns wirklich überrascht: Wie wenig bei Jugendamtsentscheidungen die Kinder selbst im Mittelpunkt stehen, wie wenig bei den ganzen Streitereien zwischen Eltern, Pflegeeltern, Heimen und Gerichten auf die Kinder selbst geachtet wird. Wir mussten lernen, dass deutsche Behörden die Menschenrechte der Kinder oft mit Füßen treten.
Kersten Schüßler: Der Fall Chantal, die anscheinend bei ihren Pflegeeltern den tödlichen Methadon-Cocktail trank, erwischte uns sozusagen während der Produktion. Das passiert immer wieder bei längeren Stücken, dass man von der Aktualität eingeholt wird. Aber wie auch beim Fall Kevin in Bremen sind das die Anlässe, wo extrem viel berichtet wird, bevor wieder eine Phase der Ruhe eintritt. Uns hat gerade der Alltag interessiert, der normale Umgang mit der Masse der Kinder - jenseits der spektakulären Fälle. Und wir waren schon erstaunt und auch betroffen, wie wenig Zeit Vater Staat sich bei so wesentlichen Eingriffen in Familien und Kinderbiografien nimmt.
Frage: Warum werden denn die Kinder hierzulande so schlecht behandelt?
Gesine Enwaldt: Wir waren bei einem Pfarrer in Berlin-Marzahn, Bernd Siggelkow, der über Spenden bundesweit 16 Betreuungszentren für vernachlässigte oder sozial gefährdete Kinder aufgebaut hat. Er kennt Hunderte von Kinderschicksalen und glaubt, dass die Armut und vor allem die soziale Verwahrlosung extrem zunehmen. Es gibt Eltern, die sind nicht in der Lage, ihren Kindern Essen zu machen, weil sie selbst nicht gelernt haben, wie Erziehung und der Umgang mit Kindern ansatzweise funktioniert.
Siggelkow sagt, das Gefühl der Überforderung nehme zu, die Zahl der Babys, die in Mülltonnen oder ähnlichem ausgesetzt werden, auch. Viele der Kinder würden hungern, wenn sie nicht in den Betreuungszentren verpflegt würden - so hat man uns erklärt. Dabei sind die Eltern materiell nicht wirklich unterversorgt: Fernseher, Handys, Computerspiele sind fast überall vorhanden - aber je unstrukturierter der Alltag aussieht, desto stärker scheinen Kinder zu kurz zu kommen und zu leiden.
Kersten Schüßler: Leider setzt sich das oft fort, wenn die Kinder aus den Familien herausgenommen werden. Sie kommen dann in eine Art staatlich organisierte Versorgungsachterbahn, wo sie oft von einer Station zur nächsten gebracht werden, ohne dass ihnen gegeben wird, was ihnen am meisten fehlt: Aufmerksamkeit, Beständigkeit, Zuwendung und Liebe. Die Jugendämter sind rettungslos überfordert, leiden unter Personalmangel und die Familiengerichte scheuen sich oft, schnell eine Entscheidung zu treffen, die den Kindern eine feste Perspektive gibt: Hier gehöre ich jetzt hin, hier kann ich bleiben, hier darf ich auf ein besseres Leben hoffen.
Frage: Woran liegt das? Ist Vater Staat zu zögerlich oder greift er zu schnell ein?
Gesine Enwaldt: Beides. Aus Angst, solche Tragödien wie Kevin und Chantal nicht vermeiden zu können, werden zu viele Kinder zu früh aus den Familien herausgeholt. Wenn aber das Kind herausgenommen wurde, geschieht meist erst mal nichts. In unseren Fällen haben sich die Jugendämter kaum mehr blicken lassen, haben Pflegeeltern nicht besucht, nicht unterstützt, gewartet und dann irgendwann überlegt, ob das Kind nicht doch besser wieder in seine Herkunftsfamilie zurück soll. Nach vier bis fünf Jahren aber sind die Pflegeeltern für ein Kind tatsächlich die wirklichen Eltern, es versteht gar nicht, warum es jetzt woanders hin soll, spürt die Gefahr einer Entwurzelung, von völlig unerklärbarem Heimatverlust.
Kersten Schüßler: Und die Familiengerichte setzen das dann oft auf ihre Weise fort: Eltern und Pflegeeltern streiten samt Jugendamt um das Kind, dessen eigenes Wohl immer mehr aus dem Blick gerät, je länger der Streit dauert. Das Kind, um das es eigentlich gehen sollte, ist die einzige Partei, die keinen Rechtsvertreter, also keinen Anwalt hat. Und die Richter nehmen sich meist viel zu wenig Zeit, um das Kind selbst anzuschauen. Kaum ein Richter besucht ein Kind zu Hause, um sich ein Bild zu machen.
Frage: Haben Sie ein Fazit gefunden in Ihrer Reportage?
Gesine Enwaldt: Wir fanden schlüssig, was Professor Wolf von der Universität Siegen in seinen Studien herausgefunden hat: Statt den Streit und das Ringen um das Wohl des Kindes in die Länge zu ziehen, sollte nach einer Herausnahme alle Energie und Aufmerksamkeit darauf verwendet werden, möglichst bald eine tragfähige Lösung zu finden. Das heißt, binnen eines Jahres sollte das Kind in einem stabilen Umfeld leben - mit einer klaren Entscheidung. Nichts ist schrecklicher für ein Kind, als immer wieder aus der gewohnten, geliebten Umgebung herausgerissen zu werden.