Wie die Übergriffe die Flüchtlingsdebatte verändern
Seit der Silvesternacht ist nicht nur in Köln nichts mehr wie es mal war. Am Ende des Jahres 2015, das in weiten Teilen von der Flüchtlingsfrage bestimmt war, markieren die Angriffe auf Frauen eine Zäsur: Fortan gibt es nur noch ein davor und ein danach.
Als Flüchtlinge registrierte Männer, die gemeinschaftlich möglicherweise hunderte Sexualstraftaten begehen: Manche sehen sich jetzt auf schreckliche Weise in ihren bestehenden Ängsten und Vorurteilen bestätigt. Andere wiederum sehen sich mit einem Horrorszenario konfrontiert, welches mit einem Schlag die enormen Anstrengungen in der Aufnahme und Integration der Flüchtlinge in den vergangenen Monaten zunichte zu machen droht.
"Kein Tabu errichten"
Groß ist die Angst vor der sozialen Sprengkraft der Ereignisse. Nur so erklärt sich, dass die Kölner Polizei offenbar zunächst Informationen über die Identität der Täter zurückhielt und in der Folge auch die Kölner Bürgermeisterin Henriette Reker beschwichtigte: Es gebe keinen Hinweis darauf, dass es sich um Flüchtlinge handelt.
Doch die Realität ist eine andere. Und seit diese Erkenntnis zur Gewissheit wurde, ist etwas ins Rutschen geraten, auch in der Politik. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) forderte, man dürfe "kein Tabu errichten. Dass wenn Straftaten begangen worden sind und einiges dafür spricht, dass es Nordafrikaner waren, dann darf man nicht einfach darüber hinweg reden". Auch Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) betonte: "Hier wird nichts vertuscht oder unter den Teppich gekehrt, auch nicht aus vermeintlicher Rücksichtnahme auf Flüchtlinge."
Aber hat man das denn getan? Das Bekenntnis zur Wahrheit im Falle von Köln klingt beinahe wie das Eingeständnis, man habe in der Vergangenheit Probleme kleingeredet oder verschwiegen, um den sozialen Frieden nicht zu gefährden.
Ein solches Tabu aber habe es gar nicht gegeben, sagt der Soziologe Armin Nassehi gegenüber Panorama 3. "Es gibt Probleme mit Migration, das ist gar keine Frage. Wohlmöglich wurden die nicht immer ausreichend diskutiert, aber ein Tabu kann ich nicht erkennen." Tatsächlich hätten Politik und Gesellschaft auch vor der Silvesternacht von Köln offen debattiert, was eine gute Migrationspolitik braucht, auch über mögliche Gefahren im Zusammenhang mit der Aufnahme Hunderttausender Flüchtlinge sei gesprochen worden.
"Flüchtlingspolitik im Kern in Ordnung"
"Wir sollten keine Angst haben vor der Tatsache, dass Flüchtlinge unter den Tätern sind, dass es Flüchtlinge gibt, die unseren Schutz missbrauchen", so der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum, FDP, gegenüber Panorama 3. "Das ändert nichts daran, dass die Flüchtlingspolitik im Kern in Ordnung ist. Aber das Verschweigen der Wahrheit, das ist Wasser auf die Mühlen von Pegida."
Ganz so, als wolle man sich nun keinesfalls dem Verdacht aussetzen, irgendetwas zu beschönigen, hat eine neue Rhetorik Einzug gehalten in der Politik. Plötzlich werden kulturelle Unterschiede in der Behandlung und Rolle der Frau offensiv problematisiert. Der Justizminister, der Innenminister, der Vizekanzler, selbst Angela Merkel - alle rufen nach härteren Gesetzen, schnellerer Abschiebung, einer klaren Antwort des Rechtsstaats. Alles im Brustton der Empörung und Entschlossenheit. Zwar folgt stets der Satz, man dürfe Flüchtlinge jetzt keinesfalls unter Generalverdacht stellen, doch der Eindruck ist ein anderer.
"Es ist ja schön zu sagen, naja dann schmeißen wir sie halt raus. Nur dass das sehr schwierig ist, wird nicht gesagt", so Gerhart Baum. "Es findet ein Aktionismus statt, der zeigen soll, wir sind unglaublich handlungsstark. Doch zur Wahrheit gehört auch zu sagen, dass die Maßnahmen nicht hundertprozentig geeignet sind, das Problem zu lösen, manchmal überhaupt nicht."
Emotional aufgeladene Debatte
Die notwendige Differenzierung in einer emotional aufgeladenen Debatte findet kaum statt, beklagt Armin Nassehi. "Es besteht die Gefahr, dass die sozialen Konflikte in der Gesellschaft stärker werden. Dass Menschen sich legitimiert fühlen, Migranten, Ausländer, Flüchtlinge anzugreifen. Diese Gefahr ist nicht abstrakt, sondern sehr, sehr konkret." Entscheidend werde sein, ob wir in der Folge zu einer sachlichen und differenzierten Auseinandersetzung über die mit der Aufnahme und Integration der Flüchtlinge verbundenen Schwierigkeiten finden.
Die gegenwärtige Debatte ist davon leider noch weit entfernt.