Stand: 24.01.2017 16:31 Uhr

Wachstums-Verlierer: Die Krise der Mittelschicht

von Dörte Petsch und Mareike Burgschat

"Mit einem Gehalt kommen wir nicht mehr aus", rechnet der gelernte Lkw-Fahrer Heiko Behrends aus Lüneburg vor. "Es ist nicht wie früher, als meine Mutter allein zu Hause bleiben konnte und mein Vater das Gehalt verdient hat, das kriegst du nicht hin", ergänzt seine Frau Wiebke. Gerade kommt sie von der Arbeit, um sich um die gemeinsame neunjährige Tochter Mia zu kümmern.

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Um in Deutschland zur Mittelschicht zu gehören, muss eine dreiköpfige Familie über 1.865 Euro netto zur Verfügung haben. Das haben die Behrends, sie liegen sogar um einiges darüber. Dennoch, das Geld ist eher knapp, es bleibt nicht viel hängen für Rücklagen, obwohl beide arbeiten - Heiko Behrend 42 Stunden im Büro einer Baufirma, Wiebke Behrend 40 Stunden als Küchenhilfe in einem Krankenhaus. Vom wirtschaftlichen Aufschwung hat die Familie bislang kaum profitiert.

Mittelschicht: Keine Einkommenszuwächse

Sighard Neckel ist Soziologe und beschäftigt sich mit dem sozialen Wandel in Deutschland. Ihn erstaunt nicht, was Familie Behrends erzählt, denn die Daten zeigen, dass die Mittelschicht in den letzten 15 bis 20 Jahren keine Einkommenszuwächse gehabt habe und die Arbeitseinkommen dort nicht gestiegen seien. Zugenommen hätten hingegen die Abgabenbelastung und der Leistungsdruck in manchen Berufen. Seit Jahren werde diese Situation in der Öffentlichkeit diskutiert, doch die Maßnahmen, die bisher ergriffen wurden, hätten bei Weitem nicht ausgereicht, so Neckel. Im Gegenteil, der Experte spricht davon, dass die Mittelschicht schrumpfe und der größere Teil derjenigen, die die Mittelschicht verlasse, in den unteren Schichten lande.

Leiharbeit wird schlechter bezahlt

Genauso ist es Familie Strasser ergangen. Marc Strasser hat in seinem Beruf als Betriebsschlosser gearbeitet, seine Frau hatte einen 450-Euro-Job, und das Geld hat für die Familie mit damals drei Kindern gereicht. Doch dann wurde er erst krank und danach arbeitslos, und finanziell wurde es eng. Marc Strasser wollte zurück in seinen Beruf, landete bei Leiharbeitsfirmen, die schlechter bezahlten. Eine Festanstellung fand er keine mehr.

Erhöhtes Armutsrisiko

Heute fährt er Taxi, meist Nachschicht, da gibt es wenigstens noch einen Zuschlag. Seine Frau arbeitet auch, als Selbstständige bestückt sie Strumpfregale in Supermärkten und muss dafür weite Strecken mit dem Auto zurücklegen. Beide arbeiten nicht in Vollzeit, denn sie müssen sich abwechselnd um die mittlerweile fünf Kinder kümmern. Um wieder zur Mittelschicht zu zählen, so definiert es die Wissenschaft, bräuchte die Familie mindestens 3.000 Euro netto Haushaltseinkommen. Bei einem Einkommen darunter sei das Armutsrisiko erhöht, so die offizielle Formulierung der Experten.

Hoffnung auf die Zukunft

Das Logo der Bundesagentur für Arbeit © picture-alliance / dpa Foto: Sebastian Kahnert
Wenn der gemeinsame Verdienst nicht reicht, muss das Jobcenter das Geld aufstocken.

Bis zum Ende des Monats reicht der gemeinsame Verdienst der Strassers nicht, das Jobcenter schießt den Rest dazu. Aufstocker wollten sie nie sein, doch inzwischen schämen sie sich nicht mehr dafür. Strasser hat nicht viel Hoffnung, dass er die Familie in absehbarer Zeit allein ernähren kann. Vielleicht, so hofft er, reicht es wieder, wenn die Kinder größer sind, dann könnten beide auch wieder mehr Stunden arbeiten.

Schlechte Löhne, befristete Arbeitsverträge, Zeitarbeitsverträge, Scheinselbstständigkeit und Minijobs erschweren Familien wie den Strassers den Wiedereinstieg in die Arbeitswelt. "Die meisten Entwicklungen, über die wir uns heute beklagen, sind keine wirtschaftlichen Sachzwänge, sondern gehen wesentlich auf politische Entscheidungen zurück, die in der Vergangenheit getroffen worden sind und die man heute wiederum revidieren oder verändern kann", sagt Soziologe Neckel.

Vermögensungleichheit erreichte hohe Werte

Anlässlich des fünften Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung sprach Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) davon, dass die "Kluft zwischen Arm und Reich nicht weiter auseinandergegangen ist". Für Neckel ist klar, dass das nicht reicht. Die Kluft zwischen Arm und Reich müsse geringer werden, denn schließlich gehöre Deutschland zu den Ländern, in denen die Vermögensungleichheit die höchsten Werte habe.

Zurück zu Familie Behrends. Wiebke Behrends steht um vier Uhr morgens auf, nachmittags, nach ihrer Arbeit, macht sie mit ihrer Tochter Hausaufgaben. Das ist ihr wichtig, denn ihre Tochter soll es einmal besser haben als sie und ihr Mann. Im Sommer schafft Mia wohl den Sprung aufs Gymnasium.

Hinweis der Redaktion: In einer früheren Version dieses Beitrages sowie im Fernsehbeitrag ist uns ein Fehler unterlaufen. Es hieß, dass Familie Strasser mindestens 5.000 Euro brutto verdienen müsse, um auf ein Nettoeinkommen von 3.000 Euro zu kommen. Wegen des hohen Anteils des Kindergeldes am Haushaltseinkommens ist das falsch. Die Redaktion bittet für diesen Fehler um Entschuldigung.

 

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Dieses Thema im Programm:

Panorama 3 | 24.01.2017 | 21:15 Uhr

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