"Islamischer Staat": die Bürokratie des Terrors - NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung konnten geheime Dokumente auswerten
Die Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) hat bereits weitgehende staatliche Strukturen errichtet. Das belegen interne IS-Dokumente, die NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung einsehen und in Teilen kopieren konnten. So gibt es innerhalb der Terrororganisation etwa eine Krankenversicherung, Heiratsbeihilfen und Unterstützungszahlungen für die Familien getöteter oder inhaftierter Kämpfer. Das Erste zeigt dazu am Freitag, 14.11., um 22.00 Uhr die 15-minütige Sondersendung "Die Bürokratie des Terrors - Innenansichten des Islamischen Staats".
Die Dokumente enthalten umfangreiche Namenslisten von Kämpfern, detaillierte Angaben über Waffeneinkäufe sowie Personalakten von Selbstmordattentätern. In einer Art Kartei registriert die IS-Führung darin "Märtyrer", die für Selbstmordattentate abkommandiert sind. Sie hinterlassen meist eine Telefonnummer, so dass später ihre Familien oder Freunde unterrichtet werden können. Aus den Unterlagen ergibt sich, dass viele der Freiwilligen schon eine Woche nach ihrer Ankunft im Irak ihr Selbstmordattentat begehen.
Die Dokumente geben einen bisher unbekannten Einblick in die Organisation. Das ausgewertete Material stammt aus dem Jahr 2013 und reicht bis ins Frühjahr 2014. Die Unterlagen beziehen sich fast ausschließlich auf den Irak. Nach Angaben der irakischen Regierung waren die Dokumente auf USB-Sticks und Festplatten gespeichert und wurden am 5. Juni 2014 bei einer Razzia im Versteck von Abdel Rahman al-Bilawy gefunden. Er war nach irakischen Angaben der zweite Mann innerhalb der Terrororganisation und fungierte als "Kriegsminister". Bei der Razzia wurde er getötet. Im Juni hatte erstmals der "Guardian" über den Dokumentenfund berichtet. Die irakische Regierung hat einen Teil der gefundenen Dokumente nun NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung zur Verfügung gestellt.
Die Unterlagen zeigen außerdem, dass alle neun IS-Provinzen innerhalb des Iraks offenbar über einen eigenen Etat verfügen. Zwischen den einzelnen Provinzen findet wohl auch eine Art Länderfinanzausgleich statt, bei dem reiche Bezirke Hilfszahlungen an ärmere leisten. So sollen offenbar Terroristen in allen Provinzen in die Lage versetzt werden, Anschläge zu verüben. Um die Macht im Inneren zu sichern, investiert der IS viel Geld in die Sozialleistungen: Die Kosten für das Sozialsystem übersteigen bisweilen sogar die Ausgaben für den Ankauf von Waffen. Der IS verfügt dabei über große Summen, die offenbar auch aus Schutzgeldzahlungen stammen, wie die Dokumente nahelegen. Die Ausgaben allein des Bezirks Bagdad-Nord beliefen sich im November 2013 auf insgesamt 493.200 US-Dollar.
Auch über Waffenkäufe führt der "Islamische Staat" penibel Buch. So enthält eine interne Einkaufsliste amerikanische M4-Sturmgewehre zum Preis von 8200 US-Dollar pro Stück. Auch "amerikanische neuwertige Nachtsichtgeräte" kaufte IS laut des Dokuments zum Preis von je 2900 Dollar ein. Über beide Waffen verfügte zu diesem Zeitpunkt die irakische Armee. Es besteht der Verdacht, dass die Waffen von korrupten irakischen Militärs stammen könnten.
Die Dokumente zeigten, dass der islamische Staat sich selbst als Staat ernst nimmt, sagt Professor Peter Neumann vom King's College London, dem Teile der Unterlagen von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung vorgelegt wurden. Für den IS selber sei diese Idee des Staates nicht nur ein Label. "Sie verstehen sich wirklich als Staat, sie möchten als Staat ernst genommen werden und sie handeln wie ein Staat", so Neumann.
Die Dokumente würden klarmachen, dass der IS sehr gut organisiert sei und dass selbst brutale Akte der Gewalt sehr gezielt eingesetzt würden, sagt Neumann weiter. Der IS setze vielleicht mehr als jede andere Terrororganisation in der Geschichte ganz systematisch den Terror als Mittel der Kriegsführung ein. "Diese Dokumente bestätigen im Prinzip, dass diese gesamte Organisation eigentlich viel rationaler und viel durchdachter ist, als wir uns das bisher vorgestellt haben", so Neumann.
In einer Analyse für die Bundesregierung bezeichnet der Bundesnachrichtendienst IS als "hochattraktiv" für Muslime in aller Welt. Dies sei einer der Gründe, warum IS "eine größere Herausforderung für die westliche Staatengemeinschaft" darstelle als al-Qaida.
14. November 2014/IB
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