Demonstration gegen Fahrpreiserhöhungen in Hannover 1969. © picture-alliance / dpa

Juni 1969: "Aktion Roter Punkt" - Boykott gegen höhere Fahrpreise

Stand: 03.06.2024 11:20 Uhr

Aus Protest gegen eine Fahrpreiserhöhung boykottierten im Juni 1969 in Hannover Tausende Menschen Busse und Bahnen. Die Alternative: Fahrgemeinschaften - gekennzeichnet mit dem roten Punkt.

von Vivienne Schumacher, NDR.de

Zum 1. Juni 1969 kündigen die Hannoverschen Verkehrsbetriebe (Üstra - Überlandwerke und Straßenbahn) eine Erhöhung der Fahrpreise für Straßenbahnen und Busse um bis zu 33 Prozent an. Dagegen regt sich Protest, der unter dem Namen "Aktion Roter Punkt" bundesweit auf Sympathie stößt. In den frühen 1970er-Jahren kommt es in zahlreichen deutschen Städten zu ähnlichen Initiativen.

Demonstration gegen Fahrpreiserhöhungen in Hannover 1969. © picture-alliance / dpa
AUDIO: Proteste gegen Fahrpreiserhöhungen - Aktion der Rote Punkt (6 Min)

"Autofahrer! Helfen Sie den Bürgern!"

Es ist die Idee zweier Studenten, die Mitglieder des Allgemeinen Studentenausschusses (AstA) der Technischen Universität in Hannover waren. Mit einem Flugblatt setzen sie die "Aktion Roter Punkt" im sogenannten heißen Juni 1969 in Gang. Außer der Kritik an den Fahrpreiserhöhungen der Üstra enthält das Flugblatt auch konstruktive Vorschläge. "Autofahrer!", heißt es darin, "helfen Sie den Bürgern, die kein Auto besitzen. Kleben Sie sich den 'Roten Punkt' an die vordere Windschutzscheibe!" Mit diesem Punkt sollen die Autofahrer signalisieren, dass sie Passanten kostenlos mitnehmen.

Der rote Punkt der Solidarität

Straßenbahnen und Busse werden seit dem 7. Juni 1969 durch Sitzblockaden und Demonstrationen behindert. Die Polizei setzt Wasserwerfer und Tränengas ein und nimmt im Verlauf einer Demonstration am 10. Juni 120 Personen fest. Den Protest kann dies jedoch nicht eindämmen. Nach ein paar Tagen stellt die Üstra den Verkehr ein. Vom 12. bis 19. Juni fahren weder Busse noch Straßenbahnen. Gleichzeitig solidarisieren sich immer mehr Autofahrer mit der Bürgerinitiative und stecken sich den handtellergroßen roten Punkt auf weißem Quadrat hinter die Scheibenwischer.

Mit dem Schlachtruf "Üstra, Üstra, ungeheuer, erstens Scheiße, zweitens teuer" bringt die Bevölkerung ihren Unmut über das private Unternehmen zum Ausdruck. In der Hochphase des Protestes fährt jedes zweite Auto mit dem roten Punkt, die Fahrer nehmen wildfremde Menschen mit und werden Teil des öffentlichen Nahverkehrs.

50.000 rote Punkte von der Stadt

Die Bewegung erreicht eine breite Bevölkerung und bekommt den Charakter eines Volksfestes. Gewerkschaften, Großbetriebe und Teile der Presse unterstützen die Proteste. Nach knapp einer Woche solidarisiert sich auch die Stadtverwaltung Hannover. Sie lässt 50.000 rote Punkte drucken und verteilen. Der Protest dauert elf Tage. Die Üstra nimmt ihre Preiserhöhung zurück und ersetzt sie durch einen Einheitsfahrpreis von 50 Pfennig pro Strecke. Ein Jahr später wird das bis dahin private Unternehmen in einen kommunalen Dienstleister umgewandelt.

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